In den letzten vier Jahren wurden in der Schweiz viele Wohnstraßen sowie einige Geschäftsstraßen, Plätze und Querungsstellen als „Begegnungszonen“ ausgewiesen, d.h. Mischflächen mit Fußverkehrsvorrang. Aufgrund der zeitgemäßen Gestaltung und der z.T. recht hohen Fahrzeugmengen finden die Projekte auch im Ausland Beachtung. Nun beansprucht die Stadt Frankfurt am Main die erste entsprechende Umsetzung in Deutschland.
Erwartungen
Seit August 2008 bestehen in Frankfurt-Nord-end zwei „Begegnungszonen“. Wer erwartet hat, dass sie Pendants zu den spektakulären Schweizer Vorbildern darstellen, wird enttäuscht. Weder große Fahrzeugmengen wie in Biel/Bienne (Zentralplatz) noch ein schickes Stadtraum-Design wie in St. Gallen (Lounge Bleicheli) zeichnen die hessische Variante aus. Hier wurde versucht, mit kostengünstigen Mitteln eine Verkehrsberuhigung und Belebung von Wohnquartiersstraßen zu erreichen.
Ausgangssituation
Die beiden „Begegnungszonen“ Martin-Luther-/Böttgerstraße und Rotlindstraße liegen in grün-derzeitlicher Blockrandbebauung mit Straßenraumbegrünung und Tempo-30-Zonen-Regelung. Sie umfassen jeweils zwei sich kreuzende Straßen bzw. Straßenabschnitte von bis zu ca. 200 Meter Ausdehnung. Eine der Stra-ßen hat einen begrünten Mittelstreifen, der so breit ist, dass er einen Kinderspielplatz enthält. Das Kfz-Aufkommen der einzelnen Straßen va-riiert geschätzt zwischen ca. 100 und 2.000 Fahrten / Tag. Beide „Zonen“ beinhalten schon vor längerem umgesetzte Verkehrsberuhi-gungs-maßnahmen (Straßenabhängungen und versetzt angeordnete Parkstände). Der Pkw-Parkdruck ist sehr groß, es gibt viele Stellplätze, z.T. sogar auf Bürgersteigen! Die sonst meist akzeptabel breiten Gehwege sind konventionell durch mittelhohe Bordsteine abgetrennt.
Umsetzung
Die hessischen „Begegnungszonen“ sind als Verkehrsberuhigte Bereiche (Zeichen 325) beschildert. Dementsprechend dürfen Fahrzeuge höchstens Schrittgeschwindigkeit fahren (7 bis 10 km/h), nicht 20 km/h wie beim Schweizer Original. Baulich wurde das bestehende Trennprinzip beibehalten. Umbauten im Zusammenhang mit der Neuausweisung wurden aus Kostengründen nur vereinzelt und sparsam vorgenommen (eine Abpollerung zur Sitzbankaufstellung, ein Einfahrtsumbau). Das Verkehrszeichen 325 steht meist auf einer Sperrfläche im „Parkstreifen“ - ergänzt um ein gespiegelt dazu aufgestelltes Plakat „Begegnungszone“. Das Verkehrszeichen wird auf dem Asphaltbelag wiederholt, wo auch ein 1,50 m breiter Querstreifen mit Schachbrettmuster (Aufmerksamkeitsfeld) aufmarkiert ist. Die an mehreren Stellen markierten Gefahrenzeichen „Kinder“ sind ein integrierter Altbestand. Auffallend sind die abschnittsweise aufmarkierten Farblinien und -flächen zwischen der Bordsteinen: Rote Felder von ca. 15 m Länge sowie - in den Knotenpunkten - grüne Gitterschraffuren.
Die Frankfurter Ausführung zitiert Details aus Begegnungszonen in St. Gallen, orientiert sich aber insgesamt an den Begegnungszonen in Wohngebieten von Bern (siehe „Berner Modell“). Das eigentliche Vorbild ist allerdings Freiburg im Breisgau.
Projekthistorie und -hintergrund
Die Frankfurter Straßenräume wurden im Rahmen des im April 2007 begonnenen ExWoSt-Forschungsprojektes „Vernetzte Spiel- und Begegnungsräume“ umgestaltet. Vorausgegangen war die Aufstellung eines Nahmobilitätskonzepts für den Stadtteil, bei dem sich bereits im Rahmen der (informellen) Bürgerbeteiligung deutlich der Wunsch nach mehr Verkehrsberuhigten Bereichen zeigte. Die aktuelle Realisierung ist aus freiraumplanerischer Perspektive abgeleitet. Im Rahmen des Forschungsprojektes erfolgt auch eine Beobachtung des verkehrlichen und sozialen Geschehens. Eventuell kann es noch zu Anpassungen bei der Auswahl und Gestaltung der Straßen kommen.
Bewertung
Geschmack ist subjektiv, deshalb soll hier eine gestalterische Beurteilung der bunt bemalten Straßenflächen unterbleiben. Initiativen von unten zur Belebung der Aufenthaltsfunktion in Straßenräumen sind auf jeden Fall zu begrüßen, besonders wenn ein Instrumentarium eingesetzt wird, das den Fußverkehr bevorrechtigt.
Die aktuelle Ausführungskonzeption unterliegt dem „Planungsprinzip des kleinstmöglichen Eingriffs in (...) die Stellplatzbilanz“ (Pressemitteilung). Dabei kommt weiterhin legales „Gehwegparken“ zum Einsatz, was illegales Parken provoziert und zur starken Verengung der begehbaren Fläche vor einem Haus (Vogelbergstraße) führt. Das ist nicht sehr mustergültig, zumal der Straßenraum recht breit ist.
Die Namenswahl „Begegnungszone“ für die beiden Frankfurter Projekte erinnert zum einen an von lokalen Akteur/innen besichtigte und zitierte Schweizer Beispiele. Zum anderen leitet sie sich aus dem Projekthintergrund der Spielflächenvernetzung ab.
Bezüglich der Beschilderung und der dort geltenden Regeln handelt es sich bei den Frankfurter „Zonen“ um normale Verkehrsberuhigte Bereiche, wie es sie über 6.500 mal in Deutsch-land gibt. Der Einsatz in Bestandsstraßen ohne niveaugleiche Umbau ist heute immer noch selten. Dennoch ist er als Option in der Verwaltungsvorschrift zur StVO vorgesehen - und auch schon anderswo praktiziert worden. Das setzte aber jeweils die Aufgeschlossenheit der Straßenverkehrsbehörde voraus. Hierin liegt ein Manko der deutschen Verwaltungsvorschrift zur StVO.
Die Frankfurter Namensgebung kann auch als Unzufriedenheit mit der Bezeichnung „Verkehrsberuhigter Bereich“ interpretiert werden, die angestaubt und technokratisch wirkt. „Begegnungszone“ klingt zeitgemäßer und verdeutlicht das Ziel viel besser, nämlich die Förderung und Optimierung des Aufenthalts im Straßenraum.
In Kürze
In Frankfurt a. M. wurden zwei neue Verkehrsberuhigte Bereiche in Bestandsstraßen ohne Straßenraumumbau eingerichtet - wie z.B. schon vor einigen Jahren in Freiburg i.B. Die eingesetzten Farbmarkierungen und die Bezeichnung „Begegnungszone“ erinnern u.a. an ähnliche Berner Projekte.
Hintergrund I: „Berner Modell“
Die Schweizer Hauptstadt hat sich zum Ziel gesetzt, jährlich bis zu fünf neue Begegnungszonen zu ermöglichen. Inzwischen gibt es schon über 40. Pro Vorhaben stehen ca. 10 bis 15.000 Euro zur Verfügung. Realisiert wird nur, wo die Anwohnerschaft dies überwiegend will und kundtut. Weitere (lokal festgelegte!) Voraussetzungen sind etwa eine hohe Dichte an Kindern/ Jugendlichen, ein geringes Kfz-Auf-kommen (bis 100 Fahrten/Stunde), ein allenfalls geringer motorisierter Durchgangsverkehr, die Einbettung in eine Tempo-30-Zone sowie eine Längenbegrenzung auf 2 bis 3 Straßenabschnitte. Neues Grün wird lediglich provisorisch (Pflanzkübel) bereitgestellt und nur dann, wenn sich vor Ort eine Pflegepatenschaft findet. Durch den reduzierten Aufwand können mehr Vorhaben realisiert werden. Der Ansatz entspricht etwa dem „Freiburger Modell“.
Hintergrund II: „Freiburger Modell“
Das 1997 eingeführte Programm zielt auf eine kostengünstige Umrüstung von Wohngebietsstraßen zu Verkehrsberuhigten Bereichen. Dabei wird nur mit Markierungen und provisorisch aufgestellten Elementen gearbeitet, um zu verdeutlichen, dass in der Straße die Aufenthaltsfunktion im Vordergrund steht. Der ansonsten übliche, aber rechtlich nicht zwingend erforderliche niveaugleiche Ausbau wird somit eingespart. Es gibt ein standardisiertes Verfahren zur Prüfung etwaiger Anwendungsfälle, das auch die Information und Befragung der Wohnbevölkerung vorsieht. Der Impuls muss von der Bewohnerschaft selbst ausgehen und diese mehrheitlich zustimmen (wobei Familien mit Kindern doppelt gezählt werden). Zehn der 140 Verkehrsberuhigten Bereiche in Freiburg wurden entsprechend kostensparend angelegt.
Hintergrund III: Begegnungszone
2002 eingeführte Schweizer Variante des deut-schen „Verkehrsberuhigten Bereichs“. Beide Regelungen basieren auf dem einstigen „Woonerf“ aus den Niederlanden. In Begegnungszonen gilt – wie bereits bei der Vorgän-gerregelung „Wohnstrasse“ – eine Fahrzeughöchstgeschwindigkeit von 20 km/h. Diese wird nun direkt auf dem Schild dargestellt. Der Großteil der über 300 Anwendungsfälle umfasst Wohnquartiersstraßen. Knapp ein Drittel der Begegnungszonen sind umbeschilderte alte „Wohnstrassen“. Seit der Reform zur Begegnungszone ist nun (auch) in der Schweiz ein fußverkehrsbevorrechtigter Mischverkehr in Geschäftsstraßen zulässig (in Deutschland schon seit 1980). Dies führte zu einem Boom an neuen Projekten, die sich oft durch eine hochwertige und moderne Gestaltung auszeichnen.
Für die Straßenraumnutzer/innen unterscheiden sich die Schweizerische und die deutsche Regelung nur hinsichtlichder Fahrzeugge-schwindigkeitsbeschränkung und der (Kinder-) Spiel-Regelung (siehe folgenden Artikel)
Planungstechnisch-administrativ existieren mehr Unterschiede: So gibt es z.B. in der Schweiz keine Vorgabe zum Ausbauprinzip, während in Deutschland „in der Regel“ ein niveaugleicher Ausbau gefordert wird. Dafür ist der Planungs- und Verwaltungsaufwand vor und nach der Anordnung in der Schweiz aufwändiger.
Die Anwendung der einstigen „Wohnstrassen“-Regelung in der Schweiz war auf Netzelemen-te mit maximal 100 Kfz/Stunde und ca. 300 m Länge beschränkt.
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2008, erschienen.
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