Seien wir doch mal ehrlich: Verkehrsberuhigte Bereiche (VB) sind eine bedrohte Spezies. Ganz gelegentlich trifft man ein vereinzeltes, verschüchtertes Exemplar, wo man es kaum erwartet hätte. Aber fortpflanzungsfähig ist dieses singuläre Individuum kaum. So gut wie niemand kennt die Regeln für den Umgang mit ihnen. Entsprechend schlecht sieht es mit dem Schutz aus: Es wird fast beliebig schnell durchgefahren und Fußgänger bleiben in den Randbereichen. Es soll ja in einigen Städten Schutzgebiete geben, wo mehrere Exemplare auf engerem Raum zusammen gehalten werden. Aber auch diese Siedlungen sind Inseln und kein Biotopverbund breitet sich über eine größere Fläche aus.

Tempo-Zonen

Ganz anders bei dem größeren Verwandten, der Tempo-30-Zone. Sie hat sich vielerorts - spätestens seit 2001 die Regeln für ihre Aufzucht vereinfacht wurden - zügellos vermehrt und ist fast überall anzutreffen, in vielen Orten sogar flächendeckend außerhalb der durch „Hauptverkehr“ verseuchten Straßenzüge. Einige Gegner sprechen schon von einer Tempo-30-Plage und bereiten Ausrottungsmaßnahmen vor. Glücklicherweise ist die Jagd auf Tempo-30-Zonen schwer, weil sie durch einen rechtlichen Rahmen gut geschützt sind.

Und dann sind da noch ein paar verwandte Arten: Tempo-20-Zonen, die fast ausschließlich als „verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“ gehegt werden. Sie dienen meist dem Schutz der Innenstadtstraßen vor zu viel motorisiertem Verkehr, selten dem Schutz der Anwohner vor den Gefahren des Verkehrs. Weitere Tempo-Zonen außer „30 oder 20“ bleiben fast völlig auf der Strecke. Sichtungsmeldungen nimmt der Autor gerne entgegen.

Es klafft eine deutliche Lücke im Habitat. Zwischen dem verkehrsberuhigten Bereich und der Tempo-30-Zone gibt es so gut wie nichts, das sich bislang etablieren konnte. Die erfolgreiche Ansiedlung der Spezies „Begegnungszone“ könnte diese Lücke schließen und so die Verbreitung von Verkehrsberuhigung in ganz Deutschland wesentlich voranbringen.

Verkehrsberuhigte Bereiche

Weg von der Biologie. In Deutschland ist die Verkehrsberuhigung fast zum Stillstand gekommen. Während Tempo-30-Zonen inzwischen häufig angeordnet werden, bestehen in vielen Gemeinden Bedenken gegen verkehrsberuhigte Bereiche. Diese mögen durchaus hinter der Windschutzscheibe des Gemeinde- oder Stadtrats geboren und nicht sinnvoll sein, aber sie sind vorhanden. Man hört markige Sprüche wie „Da braucht man beim Durchfahren ja ewig!“, „Das ist gefährlich, weil man sich bei der Geschwindigkeit nicht mehr auf den Verkehr konzentriert.“ oder bezogen auf Radfahrer: „Dann können sie auch schieben“. Diese Vorbehalte wirken dahingehend, dass verkehrsberuhigte Bereiche selten sind. So gut wie nirgends werden Wohngebiete flächendeckend damit ausgestattet.

Wo dann doch mal ein verkehrsberuhigter Bereich angeordnet wird, können die meisten nicht damit umgehen. Die Regeln dazu scheinen unbekannt. Oder zu schnelles Fahren wird nicht geahndet. Fußgänger bleiben selbst bei Umgestaltung des Straßenbereichs in den Seitenräumen und schaffen Fahrzeugen devot und möglichst schnell frei Bahn.

Beim fehlerhaften Umgang mit verkehrsberuhigten Bereichen mag auch eine Rolle spielen, dass der Begriff „Schrittgeschwindigkeit“ nicht exakt festgelegt ist. (1) Es kann also nicht erwar-tet werden, dass jemand mit Schrittgeschwindigkeit keine Fußgänger überholen darf oder gar Radfahrer eigentlich absteigen und schieben müssten. Letzteres ist ohnehin sachlich nicht geboten. Denn geübte Radfahrer können zwar 4 km/h oder langsamer fahren. Sie fahren aber stabiler, wenn sie schneller sind. Bei etwa 11 km/h brauchen Radfahrer den wenigsten Platz, weniger auch als wenn sie neben dem Fahrrad stehen und es schieben.

Auf der anderen Seite wirkt die Tempo-30-Zone zwar seit den 1980ern erfolgreich Unfall verhütend, sie stellt aber keine wirkliche Verkehrsbe-ruhigung dar. Es bleibt in diesen Straßen bei der strikten Trennung zwischen Fahrbahn und Gehweg. Selbst Radfahrer sollen dort vielerorts von der Fahrbahn verbannt werden.

Lückenschluss

Es fehlt eine Möglichkeit dazwischen, etwas, das in den Kommunen akzeptiert wird, das klare, verständliche und nachprüfbare Regeln aufweist. Andererseits sollte der Verkehr wirksamer beruhigt werden als durch eine Tempo-30-Beschilderung und Straßen für Fußgänger zurückerobert. In diese Lücke des Verkehrsberuhigungs-Spektrums stößt die in der Schweiz und Frankreich als Erfolgsmodell etablierte „Begegnungszone“. Deswegen brauchen wir die Begegnungszone auch in Deutschland.

Begegnungszonen berechtigen alle Verkehrsteilnehmer, die Straße zu benutzen, wobei Fußgänger Vorrang haben. In den Zonen wird dem Fahrverkehr eine konkrete, verständliche Geschwindigkeitsbeschränkung mit 20 km/h vorgegeben. Dem Einwand, dass damit ein „verkehrsberuhigter Bereich light“ etabliert werden würde, halte ich entgegen, dass eine Begegnungszone nicht den verkehrsberuhigten Bereich ersetzt, sondern ihn ergänzt. Eine Begegnungszone mit 10-km/h-Beschränkung ist für alle Verkehrsteilnehmer verständlicher als der ihr in allen Regeln entsprechende verkehrsberuhigte Bereich. Letztlich lässt alleine die Begegnungszone zu, die Geschwindigkeit auf 5 km/h zu limitieren, was der verkehrsberuhigte Bereich in Deutschland weder rechtlich leisten kann noch faktisch leistet.

Begegnungsstraßen

Wo eine Begegnungszone angeordnet würde, ist ein verkehrsberuhigter Bereich noch lange nicht durchsetzbar. Beispielsweise wurde nach der Umgestaltung des Passauer Bahnhofsvorplatzes vor vielen Jahren dort ein verkehrsberuhigter Bereich eingerichtet, der jedoch alsbald einer Tempo-20-Regelung zum Opfer fiel, weil sich fast niemand um die Schrittgeschwindigkeit gekümmert hat und Busse durchfahren sollten.

Das wäre eine typische Straße für eine Begegnungszone. Vorteil für die Fußgänger: Sie wären nicht mehr auf die dort wesentlich zu schmalen Gehwege beschränkt. Und mit etwas politischer Überzeugungsarbeit ließe sich dabei sogar die Geschwindigkeitsvorgabe ein wenig reduzieren. Ähnliche Straßenzüge findet man in der Umgebung einer jeden Fußgängerzone. Wo es zu einem reinen Fußgängerbereich nicht gereicht hat, weil beispielsweise Busse durchfahren sollen, erobert die Begegnungszone die Fahrbahn für Fußgänger zurück.

Auch in Wohngebieten würde eine Begegnungszone die Rückeroberung der Straße durch Fußgänger unterstützen. Tempo-30-Zonen leisten das nicht, weil darin das Separationsprinzip zwischen Fahrzeugen und Fußgängern erhalten bleibt.

Die Begegnungszone gibt dieses Prinzip auf und behandelt alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt, ohne dabei Fußgänger in die Straßenmitte zu zwingen. Sie können - wie im heutigen verkehrsberuhigten Bereich - in den Randbereichen bleiben, aber eben auch die ganze Straße benutzen, zum flanieren, unterhalten oder spielen. Viele Wohnstraßen sind mit 30 oder real 40 km/h und mehr zu schnell befahren. Begegnungszonen setzen die Höchstgeschwindigkeit auf maximal 20 fest; konkrete Festlegungen vor Ort bleiben politische Verhandlungssache. Unabhängig von der angeordneten Höchstgeschwindigkeit stellt damit die Begegnungszone das wesentlich bessere Modell für Wohngebiete dar als Tempo-30-Zonen.

In Kürze

Die Begegnungszone ist ein wichtiger Bestand-teil der Verkehrsberuhigung und sollte in Deutschland übernommen werden. Sie schließt eine Lücke zwischen der Tempo-30-Zone und dem verkehrsberuhigten Bereich. Sie ist leichter zu verwirklichen als verkehrsberuhigte Bereiche und ihre Regeln sind verständlicher. In Wohngebieten besitzt sie erhebliche Vorteile gegenüber den dort heutzutage als Beinahe-Standard ausgewiesenen Tempo-30-Zonen.

Quellennachweis:

Dieser Beitrag bezieht sich auf „Fortschritt muss Schritt halten“ in: mobilogisch! 4/08 S. 9ff.

  1. „Man wird jedoch nicht auf eine bestimmte km/h-Größe zwischen 4 und 10 km/h oder gar 4 und 7 km/h abstellen dürfen, [...] sondern unter Schrittgeschwindigkeit eine Geschwindigkeit zu verstehen haben, die jedenfalls deutlich unter 20 km/h liegt. [...]“, aus Hentschel, Straßenverkehrsrecht, zu Zeichen 325/326 StVO

 

Dieser Artikel von Bernd Sluka, VCD Bayern, ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2009, erschienen. 

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