Im Rahmen des Schweizer Energiesparprogramms wurde im Jahr 1995 Burgdorf als Fußgänger- und Velomodellstadt auserkoren. Im Bahnhofquartier richtete die Gemeinde eine "Flanierzone" als Pilotprojekt ein. Ziel war es, ein Regime zu finden zwischen Fußgängerzone und Tempo 30 – Zone. Der motorisierte Verkehr sollte zugelassen sein, das "Flanieren" in attraktiver Geschäftsumgebung trotzdem ermöglicht werden. Das Bahnhofquartier wurde provisorisch als "Wohnstrasse" signalisiert.
Nach anfänglicher Skepsis und Kontroversen stieß der Versuch bei den Verkehrsteilnehmenden und den Gewerbetreibenden auf positive Resonanz. Er zeigte, dass nicht nur in Wohngebieten, sondern auch in stark durchmischten, innerörtlichen Gebieten sichere und attraktive Verhältnisse für den Fußverkehr geschaffen und gleichzeitig der Fahrverkehr zugelassen werden können. (Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland galt in Wohnstraßen in der Schweiz schon immer Tempo 20.)
- Tempo 20
- Fußgängerinnen und Fußgänger haben auf der gesamten Fläche Vortritt
- die Parkierung ist nur auf markierten Feldern erlaubt.
Diese drei minimalen Regeln sind ausreichend, denn wenn der motorisierte Verkehr langsam fließt, organisiert sich der Gesamtverkehr selbständig. Der flächenhafte Fußgängervortritt ermöglicht es, auf Fußgängerstreifen zu verzichten und dem Fußgänger trotzdem eine vortrittsberechtigte Querung zu ermöglichen. Die Sicherheit wird nicht durch die Verkehrstrennung erreicht, sondern durch die reduzierte Fahrgeschwindigkeit des motorisierten Verkehrs. Auf weitere Signale oder Markierungen kann in der Folge verzichtet werden.
In den letzten 5 Jahren sind in der Schweiz über 300 solcher Begegnungszonen entstanden. Interessant ist insbesondere, dass der Einsatzbereich eine große Palette von möglichen Verkehrssituationen umfasst.
In Geschäftsbereichen vieler Kleinstädte ist die Einrichtung einer Fußgängerzone oft nicht möglich. Kunden sind sowohl zu Fuß, mit dem Velo und auch mit dem Auto unterwegs. Aufgrund der Anordnung der Ladengeschäfte beiderseits der Straße wird überall gequert.
Auch in Altstadtsituationen kann die Zufahrt für Motorfahrzeuge oft nicht vollständig unterbunden werden. Begegnungszonen eignen sich mit dem verbleibenden Verkehr ein Regime mit hoher Aufenthaltsqualität zu schaffen.
Bahnhofplätze oder auch andere zentrale Plätze zeichnen sich oft durch eine hohe Benutzerfrequenz aus. Busse, Taxis, Vorfahrt für Bring- und Holdienste, Velos und Fußgänger teilen sich den Raum. Verschiedene Bahnhofplätze wurden in letzter Zeit als Begegnungszone eingerichtet. Auch bei hohen Verkehrsfrequenzen organisiert sich der Verkehr selbst. So wird beispielsweise der als Begegnungszone eingerichtete Zentralplatz in Biel von täglich 12.000 Fahrzeugen darunter 1.200 Bussen des öffentlichen Verkehrs befahren. Fußgänger und auch Radfahrer queren mit einer großen Selbstverständlichkeit diagonal über den ganzen Platz.
In der Umgebung von Schulhäusern ist das Thema Verkehrssicherheit besonders aktuell. Kinder sollen ihren Schulweg selbständig zurücklegen können und das Schulhaus ohne Gefährdung erreichen können. Die Einrichtung von Begegnungszonen hilft hier die Situation in der Umgebung der Schulen zu verbessern.
In Wohnquartieren ist die Begegnungszone eine Fortführung der früheren Wohnstraße unter neuem Namen. Da aber die Anforderungen für die Einrichtung einer Begegnungszone gegenüber der Wohnstrasse reduziert wurden, gab es auch in vielen Wohnquartieren neue Zonen.
Die Erfahrungen zeigten, dass die Signalisierung mit dem Verkehrszeichen "Begegnungszone" alleine nicht ausreichend ist. Es braucht auch eine entsprechende Gestaltung. Die Fläche von Fassade zu Fassade muss als Einheit betrachtet und gestaltet werden. Eine Abfolge von unterschiedlich strukturierten Flächen und platzartigen Situationen zeigt dem Autolenker, dass er hier zwar fahren darf, er aber nur zu Gast ist. Rücksichtnahme und angepasstes Verhalten stellen sich in der Folge automatisch ein. Die Einrichtung von Begegnungszonen ist daher oftmals auch mit Kosten für die Neugestaltung des Straßenraumes verbunden.
Begegnungszone und "shared spaces"
Das Konzept der "shared spaces" und die Begegnungszone basieren auf der gleichen Philosophie und sind im Charakter weitgehend identisch. Im Gegensatz zum Konzept der "shared spaces" wurde in der Schweiz aber ein rechtlich abgestütztes Verkehrsregime definiert. Dies ist hilfreich, wenn es darum geht, unangepasstes Verkehrsverhalten zu ahnden. Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen, also z.B. schon bei Tempo 25, können in der Begegnungszone Bußen ausgesprochen werden. Auch bei den - seltenen – Unfällen bietet das definierte Verkehrsregime mehr Rechtssicherheit.
Internationale Verbreitung
Ziel von Fussverkehr Schweiz ist es, das Konzept der Begegnungszone in Europa zu etablieren, denn nur Regimes, die in allen Ländern einheitlich geregelt sind, werden von allen Verkehrsteilnehmenden verstanden und setzen sich auch langfristig durch. Als erster Staat nach der Schweiz hat Belgien die Regelung unter dem gleichen Namen wie in der französischen Schweiz (zone de rencontre) in die Gesetzgebung aufgenommen. In Frankreich bestehen ebenfalls Bestrebungen, das Regime zu etablieren.
Es ist zu hoffen, dass auch Deutschland das Regime der Begegnungszone einführt, denn verkehrsberuhigte Bereiche (im Volksmund oft Spielstraße genannt) werden kaum mehr neu umgesetzt und der verkehrsberuhigte Geschäftsbereich konnte sich auch nicht durchsetzten. Zudem haben in letzterem die Fußgänger keinen Vortritt.
Die Internetseite www.begegnungszonen.ch dokumentiert viele realisierte Beispiele. Sie wird von "Fussverkehr Schweiz" www.fussverkehr.ch unterhalten.
Dieser Artikel von Thomas Schweizer ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2007, erschienen.
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