Bei Planung, Gestaltung und Betrieb von Innerortsstraßen muss der Mensch im Mittelpunkt stehen, nicht der (Fahrzeug-)Verkehr. In deutschen Städten hat sich in dieser Hinsicht seit einem Jahrzehnt sehr wenig getan, obwohl seit 1985 bzw. 1993 gutwillige technische Regelwerke zur Straßenplanung vorliegen. Interessante Entwicklungen vollziehen sich aber in einigen Nachbarländern. Was können wir von den Projekten in den Niederlanden und der Schweiz lernen?
Das Prinzip „Shared Space“ („Raum für Alle“) geht davon aus, dass ein Verzicht auf jegliche Verkehrsregeln zum verantwortungsvollen Miteinander aller Verkehrsteilnehmer/innen führt. Trotz revolutionärer Idee sehen die niederländischen Musterprojekte aber aus wie „normale“ Vorhaben integrierter Straßenraumplanung (Mischflächen mit Belagwechsel, z.T. mit baulichen Maßnahmen zur Geschwindigkeitsdämpfung und Elementen zur Abgrenzung autofreier Randflächen, Lage in Tempo-30-und Parkverbotszonen und oft „hinter“ bremsenden Kreisverkehrsplätzen). Ebenfalls nicht neu ist eine Mitwirkung der Betroffenen bei der Planung, doch selten wird Partizipation so intensiv eingesetzt wie bei „Shared Space“. Auch wenn der Zielzustand noch nicht erreicht ist und einzelne Beispiele nicht richtig ins Konzept zu passen scheinen (Kreisverkehr „Laweiplein“), handelt es sich durchweg um städtebauliche Aufwertungen.
Das Besondere, die Regellosigkeit, ist nur ansatzweise erprobt. Denn bislang gelten in real existierenden „Shared-Space“-Projekten automatisch die allgemeinen Verkehrsregeln, z.B. „rechts vor links“ und Vorrang geradeaus fahrender Fahrzeuge gegenüber frei querenden Fußverkehr. Hinzu kommen örtlich gültige Zonengeschwindigkeits- und Parkregelungen für Fahrzeuge – von den Kommunen oder Behörden eingeführt und prinzipiell sinnvoll, hier aber „störend“. Der Ansatz, Sicherheit durch Regellosigkeit zu erreichen („unsicher ist sicher“), erfordert paradoxerweise ein neues Verkehrszeichen zur Einführung von Gleichrangigkeit - oder eine neue allgemein gültige Regelung. Die vorerst weiter bestehende Bevorrechtigung der Fahrzeuge ist der Schwachpunkt des ansonsten positiven Ansatzes. Grundsätzlicher Fahrzeugvorrang bei Mischverkehrsflächen ist falsch; Gleichrangigkeit wäre gut; Fußverkehrsvorrang ist besser.
Die Modellbeispiele behelfen sich, indem sie den Fahrzeugvorrang wenigstens punktuell aufheben – durch Zebrastreifen. Das kommt Hilfsbedürftigen entgegen. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass im Nahbereich frei querende Personen bei Unfällen keine juristisch Schlechterstellung erfahren, nur weil sie nicht den Fußgängerüberweg benutzt haben.
„Begegnungszone“: Vorrang für den Fußverkehr
Auf einer Mischfläche sollte der Fußverkehr überall bevorrechtigt sein – wegen seiner Verletzbarkeit, zur Absicherung von Personen, die Gefahren nicht einschätzen können oder sich unsicher fühlen, aber auch als Anerkennung seiner herausragenden Rolle für die Urbanität.
Diesem Grundsatz entspricht z.B. die seit 2002 in der Schweiz einsetzbare „Begegnungszone“. Es handelt sich um eine Schwesterregelung zum „Verkehrsberuhigten Bereich“ in Deutschland. Beide stammen vom niederländischen „Woonerf“ ab, der seit 1988/90 durch den „Erf“ (Hof) abgelöst wurde; beide werden wie dieser durch ein blaues Schild mit Haus-, Auto- und Menschendarstellung gekennzeichnet; beide können, wie der reformierte „Erf“, sowohl in Wohn- als auch Geschäftsstraßen und auf Plätzen eingesetzt werden. Die drei Regelungen unterscheiden sich für die Straßenraumnutzer/innen nur in der zulässigen Fahrzeughöchstgeschwindigkeit: Schritttempo in den Niederlanden (6 - 15 km/h) und Deutschland (4 – 7 km/h), 20 km/h in der Schweiz.
Die Ablösung der alten Schweizer „Wohnstrassen“-Regelung durch die „Begegnungszone“ hat vor allem im frankophonen Ausland große Aufmerksamkeit erfahren, wohl durch die Umsetzungsbeispiele. So hat Frankreich den Import der Regelung und des Schweizer Namens beschlossen, hier gab bisher nicht einmal eine vergleichbare Vorgängerregelung für Wohnstraßen! Und Belgien führt, ergänzend zum „Woonerf“ („Zone résidentielle“), ebenfalls die „Zone de rencontre“ ein (wobei die flämische Bezeichnung „Erf“ auch als Import der gleichnamigen niederländischen Regelung gesehen werden kann); Besonderheit: hier ist die Regelung explizit auch im Umfeld von Handwerks- und Bildungsstätten sowie in Erholungs- und Tourismusgebieten einsetzbar.
„Aires Piétonnes“: Insellösung mit und ohne Inseln
Einen wichtigen Impuls zur „Begegnungszonen“-Reform in der Schweiz gab das erfolgreiche (und andauernde) Experiment mit den meist kurzen „Aires Piétonnes“ im französischen Chambéry. Es handelt sich um teilaufgepflasterte Mischflächen mit Belagwechsel und Halteverbot. Sie finden sich an vielen Knotenpunkten im Stadtzentrum, das als Tempo-30-Zone ausgewiesen ist, und verstehen sich als flächige Querungshilfe. Wie bei „Shared Space“ erfolgen die Fahrbahnüberschreitungen ohne zusätzliche rechtliche Absicherung (wenngleich inoffizielle „Verkehrszeichen“ und Piktogramm-Markierungen eine allgemeine Wartepflicht für Fahrzeuge suggerieren).
Ausland: Erfahrungen, wie's läuft
Angesichts recht ähnlicher Lösungen ist das alltägliche Verkehrsgeschehen in Chambéry, in den stärker befahrenen Begegnungszonen und bei den „Shared Space“-Projekten sehr ähnlich: Selbstbewusste Fußgänger/innen setzen sich bei der Fahrbahnquerung oft durch, wobei sie aber nahen schnellen Autos den Vorrang lassen. Auffallend viele alte Menschen sind merklich verunsichert, z.T. auch Kinder. Viele Menschen laufen schneller, wenn Fahrzeuge herannahen. Wo bzw. wenn viele Fußgänger/innen queren, fahren die Autos größtenteils angemessen langsam; ansonsten können jedoch auch allgemeine Geschwindigkeiten um und über 30 km/h auftreten. Das niederländische Verkehrsgeschehen fällt etwas aus der Reihe, weil dort zusätzlich starke Fahrradverkehre vorkommen, die sich häufig die meisten Rechte herausnehmen.
„Verkehrsberuhigter Bereich“: Flexibel einsetzbar
Über 20 Jahre vor der Begegnungszonen-Einführung in der Schweiz und etwa 10 Jahre vor den Erf-Reform der Niederlande wurde in Deutschland eine Regelung etabliert, die den modernen Pendants für Mischflächen weitgehend entspricht: Der o.g. „Verkehrsberuhigte Bereich“. Doch ist er bis vor kurzem kaum außerhalb von Wohnstraßen angewandt worden (allenfalls vereinzelt auf schwach befahrenen Plätzen oder als Kompromisslösung in Einkaufsstraßen, wo die Geschäftsleute Angst vor einer Fußgängerzone haben).
Dagegen gibt es in der Schweiz – warum kann hier nicht vertieft werden – seit der Neuregelung einen Boom von Anwendungsfällen außerhalb von Wohnstraßen. Die neuen Schweizer Projekte sind i.d.R. ästhetisch anspruchsvoller als die meist in der Experimentierphase zur Verkehrsberuhigung (1980/90er) entstandenen deutschen. Sie zeigen:
- Es gibt großen Bedarf, zentrale Straßenabschnitte / Plätze zu humanisieren.
- Das ist möglich, sogar mit hoher Gestaltungsqualität.
- Juristische „Mischverkehrsflächen“ sind auch bei mittlerem Fahrzeugaufkommen machbar.
Leider berücksichtigt die neue deutsche Richtlinie für Anlage von Stadtstraßen (RASt 06) diese Erfahrungen nur teilweise. Die 2007 erschienene RASt 06 enthält den „Entwurfsgrundsatz“, dass die Prinzipien Mischung und (!) weiche Separation (Abgrenzung der Fahrbahn durch Pflasterrinne o.ä.) nur bis zu 400 Kfz/Stunde angewendet werden sollten (i.M. 1 Kfz pro 9 Sekunden; ca. 4.000 Kfz/Tag). Immerhin schließt die Richtlinie eine Anwendung oberhalb des Orientierungswertes nicht aus.
Darüber hinaus kann begründet von Richtlinienvorgaben abgewichen werden (z.B. durch Verweis auf die Begegnungszone Zentralplatz in Biel bzw. die „Shared-Space“-Kreuzung Toorenstraat/ DeDrift/Kaden in Drachten, wo die Kfz-Mengen das Zwei- bis Dreifache betragen). Bei höheren Fahrzeugmengen zieht sich der Fußverkehr zum Verweilen und Längsgehen zwar in den Seitenraum zurück. Dennoch hätte eine Ausweisung als Verkehrsberuhigter Bereich wesentliche Vorteile für das Gehen: Die Fahrgasse kann überall frei, schräg und v. a. bevorrechtigt gequert werden (was wegen der Verlangsamung des Kfz-Verkehrs i.d.R. auch noch angenehmer und sicherer als üblich ist).
Das Straßenverkehrsrecht enthält für „Verkehrsberuhigte Bereiche“ keine Kfz-Mengen-Höchstwerte, ist hier offener als meist angenommen: Die Straßen müssen nur „überwiegend Aufenthalts- und Erschließungsfunktion“ besitzen, was sich nicht einmal am Ausgangszustand orientieren muss. Vielmehr genügt es „insbesondere“, wenn diese Bedingung „durch (!) geschwindigkeitsmindernde Maßnahmen“ erreicht wird (VwV-StVO zu Zeichen 325).
Bezüglich der beim Mischungsprinzip anwendbaren Fahrzeughöchstgeschwindigkeiten ist die StVO („Schrittgeschwindigkeit“) konsequenter als die RASt 06 („unter 30 km/h“). Zwar gibt es in einigen Schweizer „Begegnungszonen“ positive Erfahrungen mit der dortigen 20 km/h-Grenze. Mancherorts ist dieses Tempo aber zu schnell, weshalb ein pauschaler Verzicht auf die Schrittgeschwindigkeit kein Bestandteil einer StVO-Novelle werden darf.
„Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“: Einfach langsamer
Eine anderes deutsches Instrument zur Aufwertung von Geschäftsstraßen ist der „Verkehrsberuhigte Geschäftsbereich“. Obwohl nicht auf Mischflächen ausgerichtet, ist er hier aufzuführen. Erstens wegen der Namensähnlichkeit, zweitens weil er oftmals als Alternative zu Mischflächen und allen oben genannten Betriebsformen angesehen. Hinter dem großen Namen verbirgt sich einzig und allein ein Schild, das die Fahrzeuggeschwindigkeit begrenzt: Eine Variante zur Tempo-30-Zone, die die Anordnung von Fahrzeughöchstgeschwindigkeiten zwischen 5 und 30 km/h zulässt. Sonst verändert die Regelung nichts: Es bleibt beim Vorrang des Fahrzeugverkehrs, Fußgänger/innen dürfen die Fahrbahn nur „zügig und auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung“ überschreiten – wie bei normalen Straßen. Manchmal können zudem wiederholende Höchstgeschwindigkeitsschilder eingespart werden.
Der Verkehrsberuhigte Geschäftsbereich wäre entbehrlich, wäre er nicht die einfachste Möglichkeit für Gemeinden, direkten Einfluss auf die (ansonsten meist restriktiv gehandhabte) Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen durch die Straßenverkehrsbehörden zu nehmen. Voraussetzung: Es handelt sich um Gemeindestraßen in „zentralen städtischen Bereichen mit hohem Fußgängeraufkommen und überwiegender Aufenthaltsfunktion“ (§ 45 (1d) u. (9) StVO). Somit hat die Regelung eine Berechtigung für Situationen mit bewusster Beibehaltung des Trennprinzips Fahrbahn / Gehweg. Bei weicher Separation wäre die Regelung ebenfalls anwendbar, jedoch ist hier der „Verkehrsberuhigten Bereich“ zu bevorzugen. Beide Regelungen bedürfen einer Anpassung an die aktuellen und künftigen Herausforderungen in den Kommunen, nicht zuletzt in Hinblick auf die EU-Immissionsschutzvorgaben.
Aus allem das Beste
Der FUSS e.V. empfiehlt eine Mischung aus den verschiedenen Mischverkehrs-Modellen und unterbreitet folgende Vorschläge:
- Einführung von 30 km/h als Regelhöchstgeschwindkeit innerorts.
- Die Verkehrszeichen 274.1 / 274.2 Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich sollten künftig auch auf Straßen mit überörtlicher Verkehrsbedeutung eingesetzt werden können, zumindest zur Tempo-30-Anordnung (solange diese Höchtsgeschwindigkeit noch nicht generell gilt).
- Die Zeichen 325 / 326 Verkehrsberuhigter Bereich erhalten nach Schweizer Vorbild künftig ein integriertes Symbol zur zulässigen Fahrzeughöchstgeschwindigkeit; diese kann fallspezifisch zwischen 5 und 20 km/h festgelegt werden.
- Die Verwaltungsvorschrift zur Anordnung von Zeichen 325 / 326 wird wie folgt ergänzt:
a) Verpflichtung der Straßenverkehrsbehörden, derartige Anordnungswünsche der Kommunen 1. besonders wohlwollend zu prüfen und 2. umzusetzen, wenn sie planungsrechtlich festgesetzt bzw. festgestellt sind,
b) Klarstellung der Anwendbarkeit in Geschäftsstraßen, Platzbereichen, Tourismus- und Erholungsbereichen sowie (Hoch-) Schulumgebungen,
c) Hervorhebung der Bedeutung geschwindigkeitsdämpfender Maßnahmen bei Straßen, die keine Sackgassen sind,
d) Empfehlung einer Planungsbeteiligung der Anliegerschaft. - Die Neuregelung zu Zeichen 325 / 326 könnte im Sinne einer europäischen Standardisierung in „Begegnungszone“ umbenannt werden, zumal ein neuer Name auch neue Projektanstöße auslösen wird und die bisherigen begrifflichen Verwirrungen entfallen.
- Begleitend sollte eine Aufklärungskampagne zum (weiterhin) gegebenen Fußverkehrsvorrang bei Zeichen 325 / 326 erfolgen.
Fazit
Die große Medienresonanz bezüglich „Shared Space“ belegt, dass auch hierzulande Bedarf besteht, stärker befahrene Innerortsstraßen menschlicher zu machen. Das städtebauliche Grundanliegen von „Shared Space“ – echtes Miteinander auf einer Misch(verkehrs)fläche – wird mindestens gleichwertig durch Begegnungszonen bzw. Verkehrsberuhigte Bereiche realisiert. Die beiden letztgenannten Regelungen sind vorzuziehen, da sie z. Z. mehr Rechtssicherheit und Anerkennung für den Fußverkehr bieten.
Die weitere Entwicklung von „Shared Space“ sollte beobachtet werden. Offene Fragen sind der Sicherheitsgewinn in Gebieten bzw. Zeiten mit geringem Fußquerverkehr (ohne Ahndungsmöglichkeit von Geschwindigkeitsüberschreitungen) und die systemeigene Notwendigkeit eines Netzes schnellerer Straßen (potenzielle Benachteiligung der Straßen mit größtem Handlungsdruck, den stark befahrenen Hauptverkehrsstraßen in Großstädten). Vorsicht ist angebracht, wenn der Begriff „Shared Space“ für Kampagnen missbraucht wird, die nicht auf einen stadtverträglichen Verkehrsablauf zielen (z.B. Beseitigung von Fußgängerüberwegen unter dem Motto „Lichtung des Schilderwalds“).
Ausländische Beispiele zeigen, dass „Mischverkehrsflächen“ auch oberhalb der empfohlenen Kfz-Höchstmenge gemäß RASt 06 funktionieren können, selbst wenn sie dann „nur“ noch Vorteile für den querenden Fußverkehr haben, besonders bei rechtlicher Absicherung. Die Begegnungszone gibt es eigentlich schon seit 1980 in der StVO, doch nur theoretisch und anders bezeichnet. Das deutsche Instrumentarium für Innerortsstraßen und Kfz-befahrene Plätze ist fortschrittlicher als allgemein angenommen, kann aber nur bei einer Weiterentwicklung effektiv zur Humanisierung des Straßenraums beitragen.
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2008, erschienen.
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