Fußverkehrs-Audit eines an Shared Space orientierten Modell-Platzes
Man vernimmt außerhalb der mobilogisch! recht wenig über die Wirkungen von Verkehrsberuhigungs- oder Shared Space-ähnlichen Modellvorhaben in deutschen Städten auf die Fußgänger. Viele Planer sehen in kleinen Kreisverkehrsplätzen eine Maßnahme zur Verkehrsberuhigung und wenn die Bordsteine entfernt werden sogar zur Umsetzung der Verkehrsphilosophie Shared Space. Die Stadt Brühl (NRW) ist schon im Jahr 2006 einen anderen Weg gegangen und hat den „Kreis“ durch ein geschlängeltes „X“ mit einer Mischverkehrsfläche ersetzt. Wer oder was läuft dort ab, in kalten Alltagssituationen, im Dämmerlicht oder in der Dunkelheit? Auch im Rheinland gibt es ja nicht immer nur Sonnenschein.
Vor dem Umbau der am südlichen Rand des Zentrums von Brühl (zwischen Köln und Bonn) befindlichen Kreuzung „Stern“ war sie ein Kreisverkehrsplatz mit fünf Zufahrten und etwa 11.000 Kraftfahrzeugen am Tag. Seit vier Jahren befindet sich hier ein niveaugleicher Platzbereich, der zumindest auf den ersten Blick nach Shared Space aussieht und durch weitere Straßenumgestaltungen in der Stadt heute etwa noch 6.000 Kraftfahrzeuge am Tag aufweist.
Während beim Kreisverkehrsplatz etwa 10 % der Fläche für den Fußverkehr zur Verfügung standen und der Rest für den fahrenden Verkehr und die unbenutzbare Mittelfläche; sind es jetzt 60 % nur für den Fußverkehr und der Rest ist eine Mischverkehrsfläche mit Fußverkehrsvorrang. Ziel dieser Maßnahme war es, die Geschwindigkeiten und die „Vorherrschaft“ des MIV zu reduzieren, mehr Flächen für den Aufenthalt von Menschen zu schaffen und vor allem das neu geschaffene Einkaufszentrum besser an die Fußgängerzone „Markt“ fußläufig anzubinden.
Eindeutige Verkehrsregelung
Der gesamte Platz ist an drei Zufahrten durch Zeichen 325 StVO als Verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen, eine weitere Zufahrt aus Richtung Markt ist bereits vorher verkehrsberuhigter Bereich, die fünfte einmündende Straße ist eine abgehende Einbahnstraße. Parken ist grundsätzlich nicht erlaubt, Radverkehr ist in alle Richtungen gestattet.
In den Einmündungen gibt es vier zurückversetzte und nicht im Verlauf der Hauptgehrichtung angelegte rote Pflasterungen, nur ein einziges Mal ist der Pflasterstreifen in der direkten kürzesten Gehrichtung eingebaut worden. Dazwischen wurde auf dem Platz ein großflächiges Karo-Muster mit hellgrauen Streifen auf dunkelgrauem Pflaster eingebaut, ortstypisch für Gehflächen auch in den anderen verkehrsberuhigten Bereichen.
Obwohl damit erst einmal eine große Mischverkehrsfläche entstanden ist, wurden statt der Bordsteine mithilfe von durchgängig recht eng aufgestellten Pollern und Absperrgittern eindeutige Fahrgassen geschaffen. Diese verbinden in einer geschwungenen Form die Zu- und Ausfahrten. An den Absperrgittern wurden teilweise auf der für den Kraftfahrzeug-Verkehr unerreichbaren äußeren Seite Fahrradabstellanlagen eingebaut. Dadurch wurden teilweise die nur von den Fußgängern und Radfahrern benutzbaren Flächen eingeengt.
Es gibt also für den Kraftfahrzeugverkehr eindeutige und wegen des Bus- und Lastkraftwagen-Verkehrs recht breite Korridore. Die Fußgänger dürfen zwar die ganze Fläche bevorrechtigt benutzen, werden aber letztlich ebenso eindeutig über den Platz geführt. Nur der Radverkehr, und das ist ja so ungewöhnlich nicht, benutzt die gesamte Fläche ziemlich freizügig.
Frequentierte Kreuzung
Am 15./16. November 2010 hat der Autor im Zusammenhang mit der FUSS e.V.-Shared Space-Exkursion über zwei Werktage verteilt insgesamt etwa fünf Stunden lang den Verkehrsablauf am „Stern“ beobachtet. Jahreszeitlich bedingt war keine üppige Außen-Gastronomie quer über den Platz zu bewundern und es wurde nicht flaniert, sondern zielgerichtet gelaufen. Mittags bis nachmittags querten deutlich mehr Fußgänger als Kraftfahrzeuge den Platz, früh und abends mindestens ebenso viele und ab etwa 18:00 Uhr deutlich weniger Fußgänger. Der Anteil der Lastkraftwagen war gering, dafür aber gab es teilweise einen sehr starken Busverkehr. In der Rushhour kam es aus der verkehrsstärkeren südlichen Richtung zum Rückstau.
Der Fußverkehr war dagegen an allen Einmündungen in beide Richtungen etwa gleich stark. Auf der nördlichen Seite aus Richtung Markt benutzten die Fußgänger fast ausschließlich die schmalen Streifen am Rande der Fahrgasse, obwohl es sich um einen Verkehrsberuhigten Bereich handelt (siehe Foto 1, oben). Das liegt am starken und häufig auch recht zügigen Kfz-Verkehr, der auf diesem Weg den westlich der Fußgängerzone liegenden großen Parkplatz erreicht. Dadurch gibt es an der Einmündung zum Platz aus Richtung Norden einen zweigeteilten Fußgängerstrom der dann jeweils im Randbereich des Platzes die Fahrgassen quert.
Auf der östlichen Seite haben die Fußgänger hinter den Sperrgittern deutlich mehr Platz (siehe Foto 2). Wer von der westlichen Gehwegseite kommt oder dort hin will, wird – es erinnert fatal an die Kreuzungen in der DDR – per Fußgängersperrgitter daran gehindert, eine direkte Platz-Querung vorzunehmen (siehe Foto 4). Also gingen fast alle Fußgänger wie auf einem „normalen Gehweg“ an der Hausfront entlang. Auf diesen nicht übermäßig breiten Streifen standen Fahrräder und eine Gruppe junger Leute stolperte über das quer aufgestellte Werbeschild. Am Ende der Sperrgitter müssen die Fahrgassen von zwei Platzausfahrten überquert werden. Das ist nicht hervorhebenswert komfortabel (siehe Foto 3).
Unterschiedliches Verkehrsverhalten
Die Autofahrer/innen fuhren an hellen Tageszeiten und bei erkennbaren Fußverkehrsaufkommen in der Regel vorsichtig und auch bremsbereit in den Kreuzungsbereich hinein und mitunter recht zügig bis unangemessen schnell wieder heraus. Von 5 bis 7 km/h (Verkehrsberuhigter Bereich) konnte nicht die Rede sein. In der Literatur (erste Quelle)werden 17 km/h als Geschwindigkeit angegeben, die von 85 % der Fahrzeuge unterschritten wurde.
Die „gefühlten“ Geschwindigkeiten waren in den Beobachtungszeiträumen höher. Dennoch war die Anhaltebereitschaft sehr hoch, allerdings wie bei Fußgängerüberwegen schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtet Alters- und Geschlechtsabhängig (jung - alt, männlich- weiblich) und auch abhängig von der Gruppengröße. Ganz wenige Kraftfahrer/innen versuchten, bei Fußgängergruppen durchzusetzen.
Am Abend fuhr allerdings etwa die Hälfte der Fahrzeuge mit der vor Platzeinfahrt gefahrenen Geschwindigkeit auch über den Platz. Bei etwas selbstbewussteren Fußgängern kam es wegen der Anhalte-Unwilligkeit zu Konflikten, einmal in der Abendstunde sogar zu einem Beinah-Unfall mit dann verbaler Auseinandersetzung. Es sah so aus, als wenn der Verkehrsberuhigte Bereich bei Eintritt der Dunkelheit abgeschafft wird. Der Platz ist allerdings auch schlecht ausgeleuchtet und die Übergänge sind nicht als solche optisch hervorgehoben.
Die Fußgänger können überall gehen, befinden sich aber in der Mitte des Platzes gefühlsmäßig auf der falschen Seite der Leitplanke (Fußgängersperrgitter). Ob der von Mondermann vertretene Shared Space-Grundsatz „Unsicherheit schafft Sicherheit“ hier zutrifft, kann natürlich nur im Vergleich zu den Verkehrsbedingungen für die Fußgänger vor dem Umbau entschieden werden.
In den immerhin fünf Beobachtungsstunden wurden nur etwa zwanzig Fußgänger gesichtet, die auf dem direkten Weg zwischen Markt und Einkaufszentrum quer über den Platz liefen (siehe Foto 1). Im Gegensatz zur Angabe in der Literatur wurden auch nur wenige Menschen gesehen, die - von der einzigen im Verlauf des Weges angelegten roten Pflasterung abgesehen – diese hervorgehobenen Bereiche als „heimliche Querungsanlage“ benutzt haben.
Umfrage: Was würden Sie tun, wenn Sie Brühlers Bürgermeister wären?
„Birgit Cremers: Ich würde die Straßenführung verändern. Ich finde sie z.B. im Bereich (des Einkaufszentrums) am Stern nicht gut. Das ist idiotisch. Man kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Ich wäre wieder für einen Kreisverkehr, wie es ihn früher dort gab.“
Brühler Bilderbogen, Nov. 2010
Dieser Auffassung kann sich der Autor nicht anschließen, aber die sicherlich dahinter steckende Erfahrung ist nachzuvollziehen.
Und es funktioniert doch!
Die wenigen Stündchen Beobachtung reichten aus, um zu erahnen, warum das System dennoch fast unfallfrei funktioniert (vorher gab es allerdings genauso wenig Unfälle): Fußgänger sind in der Regel nette und geduldige Menschen oder halt vorsichtig. Sie verzichten häufig auf ihre Rechte, warten eine Autoverkehrslücke ab, ja winken sogar durch. Und wenn keine Bremsbereitschaft erkennbar ist, nehmen sie ihre Beine in die Hand. Es machte zumindest den Eindruck, dass sich viele Passanten gar nicht im Klaren darüber sind, dass es sich hier um einen Verkehrsberuhigten Bereich mit rechtlich maximal 5-7 km/h, nach der Straßenverkehrs-Ordnung eindeutigen Fußverkehrsvorrang und einer mit Shared Space vergleichbaren Planungsgestaltung handelt.
In dem Augenblick, wo die Fußgänger nicht mehr in der Mehrzahl sind oder Dunkelheit dazu kommt, funktioniert das Modell leider nicht besonders gut.
Schilderstreit
Die Anwendung des Zeichens 325 StVO war und ist strittig. Weil es im Gegensatz zu anderen Verkehrszeichen viele Verhaltensregeln vorgibt, bedarf der Einsatz einer besonderen Vermittlung und Öffentlichkeitarbeit. Da an diesem Platz der Fußverkehr gefördert werden sollte, ist der Einsatz dieses Schildes gerechtfertigt und sinnvoll. Ein generelles Beschilderungsproblem wird allerdings auch hier deutlich: Die Zeichen werden ausschließlich für den Fahrzeugverkehr aufgestellt. Fußgänger sehen sie nicht und wissen deshalb auch häufig nicht, dass sie sich in einem Verkehrsberuhigten Bereich befinden.
Fazit
Politik, Stadtverwaltung und Planer haben in Brühl einen mutigen Schritt getan und damit auch die teilweise zu euphorisch und in der Regel einseitig geführte Diskussion über die kleinen Kreisverkehre infrage gestellt. Eine der beiden Platzüberquerungen ist direkter und angenehmer, als sie bei einem Kreisverkehr gewesen sein kann, die andere mindestens genau so stark genutzte Wegeführung ist leider auch nach dem Umbau nicht besonders vorteilhaft.
Ein Weiteres wurde bei der Beobachtung deutlich: Maßnahmen, die den Fußverkehr fördern und schützen sollen, dürfen nicht zu stark auf helle und schöne Tages- und Wetterbedingungen fokussiert bleiben.
Auch wenn an ein paar Stunden des Tages der Platz voller Kraftfahrzeuge ist, hat der Stadtraum an Qualität gewonnen. Der Schlängelverkehr in Form eines Flusses ist auch im Stadtzentrum netter als ein Springbrunnen in der Mitte eines Kreisverkehrs, an den man nicht herankommt. Dennoch sollte vier Jahre nach dem Umbau überlegt werden, ob man dem Fußgänger an wenigen Stellen „Brücken“ bauen sollte. Auch in Drachten in den Niederlanden wurde über die Hauptzufahrt auf Wunsch der Anwohner später ein Zebrastreifen angelegt.
Die mutigere Alternative wäre die Entfernung der Absperrgitter, damit die Fußgänger den Platz tatsächlich in ihren Wunschlinien nutzen können und den Kraftfahrern deutlicher vor Augen geführt wird, wer hier bevorrechtigt ist. Der „Stern“ in Brühl hat eine flexible Gestaltung, so dass eine Weiterentwicklung denkbar sein müsste.
In Kürze
Auch bei eines der besten deutschen Beispiele einer Verkehrsberuhigungsmaßnahme lohnt es, kritisch zu beobachten, was dort an einem grauen alltäglichen Wintertag so ab-läuft. Fußverkehrs-Audit: Und siehe, es ward gut und punktuell verbesserungsfähig.
Literatur:
- Jürgen Gerlach, Jörg Ortlepp, Heiko Voß: Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Beispiele und Empfehlungen für die Praxis. Unfallforschung der Versicherer GDV (Hrs.), Berlin 2009, Artikel: Deutschland, Brühl, „Stern“, hauptsächlich aus der Sicht der Unfallentwicklung.
- Hartmut H. Topp: Shared Space und Begegnungszonen – Erfolgsmodell oder Utopie?, in: Straßenverkehrstechnik 10.2010
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Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2011, erschienen.
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