Bericht über die Exkursion von FUSS e.V.
Shared Space - was ist das und wie funktioniert's? 20 Teilnehmer/innen aus drei Kontinenten besichtigten bei der Fachexkursion von FUSS e.V. im November 2011 gute sowie diskussionswürdige Beispiele. Mit Zügen und natürlich zu Fuß wurden vier Projekte in NRW und Niedersachsen erkundet, die jeweils beachtliche Kfz-Mengen aufweisen.
Hennef (Sieg): Frankfurter Straße, Multifunktionaler Mittelstreifen
Auch das ist „Shared Space“ (wegen der fußverkehrsfreundlichen Gestaltung): Klassische Aufteilung in Fahrbahn, Parkstreifen und Gehwege, doch gute Überquerbarkeit auf ganzer Länge (ca. 550 m). Erreicht wird das durch mitten in der Fahrbahn stehende Straßenleuchten, die einen niveaugleichen Schutzraum in schaffen und zu einem relativ niedrigen Kfz-Tempo führen. Obwohl 50 km/h erlaubt sind, liegt die „V85“, das von 85 % der Kfz eingehaltene Tempo, bei ca. 30 bis 35 km/h. Wegen der Landesstraßen-Klassifizierung gibt es keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h. Die Frankfurter Straße war das erste Projekt mit vertikalen Elementen mitten in der Fahrbahn, entstanden bereits 1989/90.
In Deutschland gibt es überraschenderweise nur wenige direkte Folgevorhaben, z.B. in Puhlheim (ca. 1995) und Kerpen-Sindorf (2010). Bekannter ist der modernere Schweizer Nachbau in Köniz bei Bern (2003/04). Die Idee stammt vom Aachener Planer und Regelwerksautor Reinhold Baier, der 2009 auch eine Evaluierungsstudie im Auftrag der Stadt Hennef durchführte. Dort wird aufgezeigt, dass Kfz-Fahrer/ innen, die Fußgänger/innen begegnen, mehrheitlich freiwillig auf ihren Vorrang verzichten, um jene queren zu lassen. Das Projekt, das Fachleute auch international noch nach 20 Jahren begeistert, ist lokal umstritten. Immer wieder werden Ampeln als Querungshilfe gefordert. Dieser Bedarf wurde von Seiten der Exkursionsteilnehmer/innen nicht gesehen. Sie kritisierten z.T. die Freigabe der Gehwege für Fahrräder, die in Anbetracht der Kfz-Geschwindigkeiten nicht sein müsste – und Konflikte mit den Fußgänger/innen bewirkt. In der Evaluierungsstudie werden Maßnahmen vorgeschlagen, die den Radverkehr verstärkt zur Fahrbahnnutzung motivieren sollen (z.B. punktuelle Umbauten an den radwegausgestatteten Zuführungsstrecken).
Die Nutzbarkeit für Blinde und Sehbehinderte scheint akzeptabel zu sein, weil die Fahrbahnmitte durch einen ca. 1 m breiten Streifen mit hellem, groben Pflaster gekennzeichnet ist. Weitere Ausführungen in mobilogisch! 2/09 (Arndt Schwab: Mittelstreifen: Neue Projekte, gute Erfolge)
Brühl: Stern, Verkehrsberuhigter Bereich
Der Platz, von dem 5 Straßen abzweigen, zeigt im Sommer ein gedeihliches Miteinander von dichtem Fuß- und Fahrzeugverkehr. Der Fußverkehr hat Vorrang, Fahrzeuge dürfen nur Schrittgeschwindigkeit fahren. Die Fahrgasse trennt die Sommer-Freisitzbereiche eines Restaurants in zwei Teile. Eine Stichprobenbefragung unter den Bedienungen ergab, dass sie trotz häufiger Querungen noch keine ernsthaften Probleme mit den kreuzenden Fahrzeugen hatten. Die begrüßenswerte Lösung könnte noch fußverkehrsfreundlicher werden. Vorschlag von Exkursionsteilnehmer/innen: Dauerhafter Entfall der kontraproduktiven Absperrgitter. Eine vertiefte Analyse unter Berücksichtigung fußverkehrsschwacher Zeiten ist auf Seite 38 dieser Ausgabe zu finden.
Duisburg: Opernplatz, Verkehrsberuhigter Bereich
Auch in Duisburg überfahren die Fahrzeuge kanalisiert einen Platz, wobei die Fahrgassen durch einen Belagwechsel und eine kleine Höhendifferenz ausgebildet werden, nicht durch Poller und Gitter wie in Brühl. Das Duisburger Projekt wurde in mobilogisch! 3/2008 bereits unter dem Namen der zuführenden „Landfermannstraße“ beschrieben. Auch auf dem Duisburger Platz hat der Fußverkehr Vorrang vor den Fahrzeugen, was sich nun nach über zwei Betriebsjahren sehr gut eingespielt hat: Die meisten Kfz überschreiten die zulässige Schrittgeschwindigkeit nur wenig und praktizieren ihre Wartepflicht vorbildlich. Das Geschwindigkeitsniveau ist gegenüber der Anfangszeit stark abgesunken. Die Gewöhnung führte hier nicht zu einer Abstumpfung, sondern zu einer Sensibilisierung der Fahrer/innen. Durch den geplanten Wegfall einer ca. 100 m nachgelagerten Lichstsignalanlage sind weitere Verlangsamungen des Kfz-Verkehrs zu erwarten. Das sehr friedliche und ruhige Verkehrsgeschehen tagsüber beeindruckte die Exkursionsteilnehmer/ innen sehr. Das Projekt ist die fußgängerfreundlichste Landesstraße Deutschlands.
Die theoretische Zulässigkeit von Spielen auf der ganzen Mischfläche ist praktisch kein Problem, weil weder Kinder noch Erwachsene dort spielen. Ausnahme: Durch Aufrufe zum Fußballspielen auf dem Opernplatz wollten einige Lokalpolitiker den Verkehrsberuhigten Bereich in den ersten Wochen verunglimpfen. Auch einigen Verkehrsjuristen ist das sehr erfolgreiche Modell der Anwendung des Verkehrszeichens 325 „Verkehrsberuhigter Bereich“ ein Dorn im Auge: Obwohl die Anordnung im Einklang mit der damals geltenden Fassung der Verwaltungsvorschriften zur StVO (VwV-StVO) erfolgte, wollen sie das Projekt juristisch beenden, weil die VwV-StVO seit September 2009 eine Einsatzbegrenzung vorgibt, die fachlich und empirisch ungerechtfertigt ist: Auf Straßen und Bereiche mit „sehr geringem Verkehr“. Die Kfz-Menge beim Duisburger Projekt liegt bei ca. 13.000 Kfz – wie in Hennef und Bohmte. 2010 entstanden in Duisburg 5 neue Verkehrsberuhigte Bereiche ähnlicher Ausrichtung, über die hier gelegentlich berichtet wird.
Bohmte: Bremer Straße, Nackte Straße
Das radikale Beispiel von unbeschildertem Shared Space in Bohmte durfte bei der Exkursion nicht fehlen. Die dortige Naked Street ist für viele immer noch der Inbegriff von Shared Space, was wie oben aufgezeigt nicht angemessen ist. Überhaupt ist der Ansatz der Nichtbeschilderung auf Dauer nicht sehr fußverkehrsfreundlich. Inzwischen zeigt sich beispielsweise, dass die anfangs recht niedrigen Fahrgeschwindigkeiten auf ungefähr die zulässigen 50 km/h angestiegen sind. Daher hat die Gemeinde nun nach zwei Betriebsjahren eine beschilderte (!) Höchstgeschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h erbeten. Das lehnt die Straßenverkehrsbehörde mit Hinweis auf die Landesstraßenklassifizierung aber ab. Der Gewöhnungseffekt hat hier genau die umgekehrte Wirkung wie in Duisburg. Dort hat die Kenntnis der Situation zu einer nachhaltig langsamen Fahrweise geführt, in Bohmte jedoch zu einer normal schnellen. Daran hat möglicherweise auch die geringe Fußgängerdichte in Bohmte Anteil.
Gerhard Renzel vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband bestätigte vor Ort, dass die kurz vor Baufertigstellung noch rasch nachgerüsteten Leitelemente für Blinde und Sehbehinderte eine selbstständige Begehung des Straßenraums für diese Nutzergruppen erlauben. Er wies aber auf die Problematik des immer wieder auftretenden (und z.Z. noch allgemein gestatteten!) Beparkens der Bodenindikatoren hin; diesbezüglich müsse die StVO ergänzt werden. Die Gemeinde Bohmte plant eine räumliche Ausweitung des Straßenraumumbaus um ca. 600 m in Richtung Bahnhof/ Rathaus. Der neue Abschnitt soll auch ein „Shared Space“ werden, allerdings nach anderen Prinzipien gestaltet und betrieben als das Bestandsvorhaben.
Hintergrund Shared Space
Der Begriff „Shared Space“ bezieht sich nach neuerer offizieller Definition (Shared Space Institute Drachten) nicht mehr nur auf völlig unbeschilderte Straßen ohne Markierungen (sog. „Naked Streets“), sondern beschreibt vielerlei ampelfreie Straßenraumaufwertungsmaßnahmen bzw. -prozesse, die auf ein Miteinander von Fuß- und Fahrzeugverkehr zielen (vgl. www.strassen-fuer-alle.de/Shared-Space-aus-Fussverkehrssicht.html).
In Kürze
FUSS e.V. präsentierte im Rahmen einer Exkursion vier verschiedene Variationen von Shared Spaces. Typisches Fazit aus der Teilnehmerschaft: „Brühl (Platz als Verkehrsberuhigter Bereich) war zwiespältig, Hennef (Mittelstreifen als Querungsanlage) erstaunlich, Duisburg (Verkehrsberuhigter Bereich einer Hauptverkehrsader) sehr überzeugend und Bohmte (Nackte Ortsdurchfahrtsstraße) ernüchternd.“
Info:
- Stadt Hennef: Verkehsgutachten Frankfurter Strasse. 2009. Download unter http://session.hennef.de/bi/vo0050.php?__kvonr=2005041810&voselect=2707
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2011, erschienen.
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