Am 7.1.2008 starb für die meisten völlig überraschend im Alter von 63 Jahren Hans Monderman, der engagierte und eloquente niederländische Vorkämpfer für „Shared Space“, das Konzept einer sozialen Koexistenz im Stadtverkehr. Durch seine Experimente in den Niederlanden, insbesondere in Drachten und Haren und das aktuelle EU- Projekt zu Shared Space (mit dem deutschen Beispiel Bohmte bei Bremen) hat Hans Monderman in die in Deutschland seit Jahren erlahmte Diskussion zur Verkehrsberuhigung und Straßenraumgestaltung wieder neuen Schwung gebracht. Die Medien haben interessiert sein „Abräumen des Schilderwaldes“ und Vertrauen auf soziale Koexistenz als Basis des Verkehrsverhaltens im Innerortsbereich aufgegriffen. Und man kann nur hoffen, dass sich – obwohl nun die engagierteste Stimme für Shared Space verstummt ist – bald auch die Politik mit dem Ansatz befässt und damit zu einer Renaissance der Verkehrsberuhigung beitragen.

Grenzen herkömmlicher Verkehrsberuhigung

Herkömmliche Verkehrsberuhigung basiert auf einigen neuen Verkehrsregelungen und – Zeichen (Tempo 30 Zone, in seltenen Fällen auch Tempo 20 oder Tempo 10 Zone, Verkehrsbe-ruhigter Bereich, Fahrradstraße, Fußgänger-bereich, Anwohnerparkgebiet, Parkver-bots-zone), die zusätzlich zum altbekannten Regel- und Schilderwerk des Straßenverkehrs den Autoverkehr in seinen Fahrabläufen und Parkierungsregelungen limitieren. Gleichzeitig heben sie einige traditionell bestehende Limitierungen des Fußverkehrs und teilweise auch Fahrrad-verkehrs auf. In der Fußgängerzone und im Verkehrsberuhigten Bereich darf überall gegangen und gestanden werden, die strikte Separation der Verkehrsarten mit klassischen Vorrechten des Autoverkehr in der Fahrbahn und Aufteilung des öffentlichen Raums in Streifen für jede Verkehrsart werden aufgehoben. Teilweise wird die Befahrbarkeit mit Kfz entweder generell oder zeitlich eingeschränkt, mindestens aber in der Geschwindigkeit limitiert.

In den 1970er Jahren begann Verkehrsberuhigung sehr vorsichtig mit vereinzelten Experimenten. Damals hatte sich vor allem der Bundesbauminister engagiert, mit zahlreichen Kongressen und Publikationen, sowie einem bundesweiten Modellvorhaben zusammen mit dem Umweltbundesamt und der Bundesanstalt für Straßenwesen. Danach wurde allmählich ein Standardrepertoire der Verkehrsberuhigung fixiert. Aber auch nach 30 Jahren bleibt die ernüchternde Feststellung: Alle diese Elemente werden viel zu zaghaft, selten und inselhaft angewendet. Verkehrsberuhigung hat den innerörtlichen Verkehr nicht grundlegend verändert. Der Kfz- Verkehr hat nicht abgenommen, der Fuß- und Fahrradverkehr haben nicht zuge-nommen. Die Verkehrswelt hat sich nur mar-ginal verändert. Das hat verschiedene Gründe:

Erstens wurde das Grundprinzip der allgemeinen Separation und der generellen Tempo 50 Höchstgeschwindigkeit nicht aufgehoben, obwohl Vieles dafür gesprochen hätte. Bei Tempo 30 verweigert der Gesetzgeber unter dem Druck der Autolobby die generelle Absenkung der Höchstgeschwindigkeiten innerorts. Statt dessen müssen die Kommunen in mühsamer Salamitaktik Zone um Zone aus der Tempo-50-Normalität „rausbrechen“. Und die Mischnutzung, also die Aufhebung der Separation, bleibt auf wenige, inselhafte Sondersituationen wie die Verkehrsberuhigten Bereiche und Fußgängerzonen sowie Fahrradstraßen beschränkt.

Ansonsten regiert weiter die Separation, obwohl seinerzeit eine „Kreuzung“ der Regelungen von Tempo 30 und Verkehrsberuhigtem Bereich diskutiert wurde und mittlerweile in der Schweiz mit der Begegnungszone (s.u.) ansatzweise auch realisiert wurde. Der hohe Kostenaufwand für bauliche Umgestaltung herkömmlicher Straßen mit Separationsprinzip limitiert die Fälle mit Mischnutzung auf wenige Ausnahmen. Und selbst bei veränderter (verfremdeter) Straßenraumgestaltung bedarf es stets flankierender Anordnung mit Verkehrszeichen. Klare Regeln und die vielen angeblich nötigen Zeichen sollen klare Verhältnisse und Sicherheit für Jedermann schaffen.

Allerdings hat das nie funktioniert. Unsere hochgradig verrechtlichten und beschilderten Straßen sind weiterhin ein Schlachtfeld voller Unfälle, Konflikte und mit extrem ungleich verteilten Chancen sich durchzusetzen, eben nach dem Recht der Stärkeren vorrangig zu Gunsten des Kfz-Verkehrs. Dessen faktische und rechtliche Dominanz konnte nicht gemildert werden.

Vision vom Shared Space: das Soziale wiederentdecken

Monderman begriff Verkehr weniger als ein kompliziertes Rechtssystem, sondern als ein soziales System, in dem nach den Regeln der friedlichen Koexistenz ein von Streifendenken und Privilegienzuteilungen unabhängiges Miteinander möglich sein sollte. Monderman unterstellt, dass bei verminderten Geschwindigkeiten die Verkehrsteilnehmer jeweils zu situationsgerechtem Verhalten bereit sind und dass sie dies ohne weiteres schaffen, weil es keine hohen Anforderungen stellt. Erst die Verkehrs-planer und Verkehrsjuristen machen die Sache kompliziert. Monderman beklagte die typischen Fehlleistungen manischer Regelfixierung und Rechthaberei, die jede normale, situationsbezogene Einzelentscheidung und Kommunikation im Verkehr außer Kraft setzen.

Routinierter Tunnelblick des auf Tempo 50 konditionierten Fahrverhaltens der Kfz-Fahrer, ängstliche, demütige Selbstbescheidung der sog. „Schwachen Verkehrsarten“, für die Straße als Feindesland definiert wird. Tausendfach eingeübte Abläufe nach den Regeln des Sepa-rationsprinzips mit streifenspezifischer Privilegienzuteilung und die damit automatisch aus dem öffentlichen Raum eliminierte Kommunikation und Koexistenz zwischen den Verkehrsarten haben aus dem offenen sozialen System Öffentlicher Raum in der Stadt mit gleichberechtigten Bürgern ein strikt hierarchisch strukturier-tes Wettbewerbssystem gemacht.

Monderman wollte allen Verkehrsteilnehmern ihre soziale Kompetenz wiedergeben durch Aufheben der starren Regeln. Das klang radikal, schien aber in den ersten realisierten Beispielen (Drachten und Haren) erstaunlich gut zu funktionieren. Die allgemeine subjektive Verunsicherung führte zu deutlich mehr objektiver Verkehrssicherheit. Manches an Mondermans Ansatz erinnerte an die Anfänge der Verkehrsberuhigung. Seine Kreuzungen entsprachen in der Gestaltung und den Abläufen den Mischflächen der Verkehrsberuhigten Bereiche. Nur traute er sich damit auf hochbelastete Ortsdurchfahrten, während in Deutschland Mischflächen vom Verordnungsgeber und den Richtlinien auf Straßen ohne jede Autoverkehrsbedeutung beschränkt wurden.

Parallele Entwicklungen in Europa

Damit griff Monderman Ideen auf, die in etwas abgeschwächter Form auch schon im Zusammenhang mit der Verkehrsberuhigung von Hauptverkehrsstraßen diskutiert und teilweise auch erprobt worden waren. In vielen Ortsdurchfahrten von Landes- und Bundesstraßen wurde mit Elementen der weichen Separation und partiellen Nutzungsmischung experimentiert. Aufgrund der vielen und teilweise auch linienhaften Querungshilfen mit ungeregeltem Querungsverhalten und aufgrund der seit Mitte der 1980er Jahre populär gewordenen Radfahrspuren stellten sich auch in Deutschland auf manchen Hauptverkehrsstraßen Formen partieller Mischnutzung ein.

In der Schweiz begannen Mitte der 1990er Jahre die Experimente mit den sog. Begegnungszonen, in denen ohne den beim Verkehrsberuhigten Bereich meist geforderten Totalumbau und vor allem trotz hoher Kfz-Belas-tungen Fahrbahnflächen für partielle Mischnutzung freigegeben wurden, meist in Verbindung mit einem Tempolimit von 20 km/h. Das bekannteste frühe Beispiel für eine Art Shared-Space-Repertoire ist die französische Mittelstadt Chambéry, in der auch Hauptverkehrsstraßen nach dem Koexistenzprinzip geregelt und gestaltet sind. Das Bedauerliche ist, dass trotz solcher erfolgreicher Experimente bislang in keinem europäischen Land der Mut besteht, die Grundregeln der Verkehrsabwicklung im Innerortsbereich generell zu überdenken.

Konsequenzen ziehen

Man muss politisch und juristisch aus den vielen guten Beispielen und der dreißigjährigen Zeit des Experimentierens endlich angemessene Konsequenzen ziehen: die generelle Höchstgeschwindigkeit innerorts muss in Europa überall auf 30 km/h festgesetzt werden. Und mit dieser Änderung muss dann die generelle Separationsregelung ebenfalls aufgehoben werden. Straßen müssen wieder als öffentlicher Raum begriffen werden, der durch die mutwillige Zerteilung in lauter Streifen funktional wie gestalterisch massiv entwertet wird.

Das muss nicht zu einer Welle von teuren Straßenumbauten führen, wie seinerzeit bei den Verkehrsberuhigten Bereichen und Fußgängerzonen immer unterstellt wurde. Man kann die Elemente und Symbole der Separation oft viel einfacher beseitigen. Einerseits Wegräumen eines Großteils der Verkehrszeichen, der markierten oder gebauten Leitlinien und Trennungs-elemente und durch Aufhebung des Fahrbahnprivilegs für den Kfz-Verkehr. Vor allem in der skandinavischen Verkehrsberuhigung sind tausendfach solche einfachen Elemente eingesetzt worden: Bäume, Laternen oder Pflanzelemente, Tische und Stühle in der alten Fahrbahn/ Gasse relativieren deutlich die klassische Bedeutung der Bordsteinkante und signalisieren zweifelsfrei eine nicht primär dem schnellen Fahren vor-behaltene Fläche.

Fahrbahnen werden so wieder neutraler Bestandteil des öffentlichen Raumes und sind deshalb für alle Verkehrsarten nach den Regeln sozialer Koexistenz benutzbar. Das schließt nicht weitergehende Investitionen in die Straßenraumgestaltung aus, wo es städtebaulich sinnvoll ist, also Shared Space auch baulich signalisiert. Aber wichtiger ist, dass es wieder generell zur Regel wird, dass man überall im Innerortsbereich mit Menschen zu Fuß und per Rad auf allen Verkehrsflächen rechnen muss, dass bisherige Fahrbahnen nicht nur in Quer- sondern auch in Längsrichtung begangen werden dürfen und dass ein Entwurfs- und Betriebsprinzip Tempo 50 im Innerortbereich nirgendwo etwas verloren hat.

Insoweit überträgt das Prinzip Shared Space die Strategie der sog. Mischfläche auf alle Straßen, also auch die Verkehrs- und Hauptverkehrsstraßen. „Abrüstung“ lautet die Devise moderner Mobilitätskultur. Nicht das Recht des Stärkeren, nicht der Terror der Raser sondern zivilisierte Fahrkultur wird Ausschlag gebend. Damit die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Menschen gelingen kann. Damit der Verkehrsraum gerechter verteilt werden kann. Damit die Nähe wieder in Wert gesetzt wird.


Dieser Artikel von Heiner Monheim ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2008, erschienen. Prof. Heiner Monheim hat von 1971 bis 1985 in der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung des damaligen Bauministeriums in Bonn und von 1985-1995 im damaligen Landesministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr in Düsseldorf am Konzept der Flächenhaften Verkehrsberuhigung, an entsprechenden Modellvorhaben und Förderprogrammen gearbeitet. Mit Hans Monderman hat er 2005 und 2006 intensive Diskussionen über Parallelen und Unterschiede der Konzepte geführt.

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