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Shared Space

Vor- und Nachteile für den Umweltverbund bei Verkehrsberuhigungsprojekten

In vergangenen Ausgaben wurde Shared Space aus Fußgängersicht dargestellt. Welche Auswirkungen ergeben sich für die anderen Verkehrsarten im Umweltverbund?

Shared Space und ÖPNV

Linienbus- und Straßenbahnunternehmen neigen dazu, jede Verkehrsberuhigung auf ihren Strecken pauschal zu problematisieren. Geschwindigkeitsbegrenzungen können im Einzelfall zu Mehrfahrzeiten führen. Doch kommt es bei Ersatz von Ampelanlagen durch Kreisverkehrsplätze oft sogar zu Fahrzeiteinsparungen, von denen auch der ÖPNV profitiert. Nachteil etwaiger Kreisel, die gerne als „Tore“ vor Verkehrsberuhigten Straßen eingesetzt werden, sind allerdings Fahrkomfortminderungen bei geradeaus fahrenden und linksabbiegenden Buslinien.

Falls es im Einzelfall doch Fahrzeitverlängerungen gibt, wird meist auch der konkurrierende Motorisierte Individualverkehr gleichermaßen verlangsamt. Sollte in bestimmten Fällen mehr Fahrzeuge bzw. mehr Fahrpersonal erforderlich oder Anschlüsse gefährdet sein, können z.B. ausgleichende Beschleunigungsmaßnahmen an anderer Stelle geprüft werden.

Durch eine Bevorrechtigung des Fußverkehrs mittels Anordnung eines Verkehrsberuhigten Bereichs sind i.d.R. keine wesentlichen Fahrzeitverluste zu erwarten, da Fußgänger/innen dem ÖPNV gegenüber häufig auf ihren Vorrang verzichten. Beschilderungsvarianten mit Fußgängervortritt werden aufgrund der ungünstigen Haftungsrechtslage von Busunternehmen kritisch gesehen (persönliche Haftung von Busfahrer/innen bei Personenschäden, dadurch vorbeugende Widerstände der Betriebsräte). Dennoch zahlt sich die Direktbedienung von Geschäftsstraßen und deren Aufwertung durch eine fußgängerfreundlichen Anordnung für den ÖPNV aus. Schließlich sind sie wichtige Ziel- und Quellorte von Fahrgästen, weshalb in etwa einem Dutzend deutscher Städte sogar Fußgängerzonen befahren werden.

Erhöhte Haltestellenkanten in ansonsten niveaugleichen Platz- und Straßenräumen stellen normalerweise keine Barriere für den Fußverkehr dar, wenn für Mobilitätsbehinderte abgesenkte umwegarme Routen vorgesehen, diese auffindbar sind und es sich nicht um Hochbahnsteige handelt.

Kurzum, die Vereinbarkeit von Verkehrsberuhigung und ÖPNV ist grundsätzlich gegeben bzw. herstellbar. (1).

Shared Space und Radverkehr

Eine Straße ohne jegliches Verkehrszeichen – und somit auch ohne straßenverkehrsrechtliche Markierungen und Lichtsignalanlagen (LSA) – prägt hierzulande das Bild von Shared Space. Diese Variante wird als „Naked Street“ bezeichnet (Nackte Straße). Das hinsichtlich Nichtbeschilderung konsequenteste Vorhaben wurde bekanntlich im niedersächsischen Bohmte realisiert (siehe vorhergehenden Beitrag). Die dortige L 81 ist die erste und bislang einzige „nackte“ Hauptverkehrsstraße Deutschlands. Wie schon in mobilogisch! 3/08 ausgeführt, gilt dort die problematische Regelhöchstgeschwindigkeit 50 km/h (Zeichen 310 „Ortstafel“), welche für Radfahrer/innen erheblich mehr Verletzungs- und Sterblichkeitsrisiko bei Unfällen beinhaltet als Geschwindigkeiten bis 30 km/h.

In Verbindung mit dem niveaugleichen Ausbau führt Nichtbeschilderung zu verstärkten Konflikten zwischen Fuß- und Radverkehr am Straßenrand. In Bohmte etwa fahren fast alle Radfahrer/innen im begangenen Seitenbereich, und zwar links und rechts: Begünstigt wird dies vielleicht durch die als Markierung (fehl)deutbaren Blinden-/ Sehbehindertenleitstreifen. Das Radfahren am rechten Straßenrand im begangenen Bereich ist zwar fußgängerfeindlich, aber rechtmäßig. Das Rechtsfahrgebot (§ 2 StVO) verbietet es sogar, in der Kfz-Fahrgasse zu radeln! Der eigentlich gewünschte „Shared Space“ existiert bei Nichtbeschilderung juristisch nur am Straßenrand, und zwar mit der fragwürdigen „Qualität“ eines benutzungspflichtigen Gemeinsamen Geh- und Radwegs.

Von daher verwundert, dass sowohl der ADFC als auch der VCD kritiklos von unbeschilderten Shared-Space-Variante schwärmen. Denn ansonsten lehnen beide Verbände innerörtliche Regelungen mit fahrrad-benutzungspflichtigen Seitenräumen ab - zurecht.

Der FUSS e.V. favorisiert Shared-Space-Varianten mit einer echten Mischfläche, also Verkehrsberuhigte Bereiche bzw. perspektivisch die sehr ähnlichen Begegnungszonen. Bei diesen Shared-Space-Typen, gestalterisch identisch mit Nackten Straßen, verkehrt der Fahrradverkehr gleichberechtigt mit den stark verlangsamten Kfz auf der baulich abgegrenzten Fahrgasse. Davon profitieren Rad- und Fußverkehr

Literatur:

  • (1) Nickel, B.E.: Shared Space und der ÖPNV. In: Der Nahverkehr 10/2009, S. 20-26
  • Arndt Schwab: Shared Space jetzt auch in Deutschland, in mobilogisch! 3/2008 Zufahrtbeschränkung in die Salzburger Innenstadt oder Salzburger Schlechtwetter-Regelung

 

Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2011, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.

Fußverkehrs-Audit eines an Shared Space orientierten Modell-Platzes

Man vernimmt außerhalb der mobilogisch! recht wenig über die Wirkungen von Verkehrsberuhigungs- oder Shared Space-ähnlichen Modellvorhaben in deutschen Städten auf die Fußgänger. Viele Planer sehen in kleinen Kreisverkehrsplätzen eine Maßnahme zur Verkehrsberuhigung und wenn die Bordsteine entfernt werden sogar zur Umsetzung der Verkehrsphilosophie Shared Space. Die Stadt Brühl (NRW) ist schon im Jahr 2006 einen anderen Weg gegangen und hat den „Kreis“ durch ein geschlängeltes „X“ mit einer Mischverkehrsfläche ersetzt. Wer oder was läuft dort ab, in kalten Alltagssituationen, im Dämmerlicht oder in der Dunkelheit? Auch im Rheinland gibt es ja nicht immer nur Sonnenschein.

Vor dem Umbau der am südlichen Rand des Zentrums von Brühl (zwischen Köln und Bonn) befindlichen Kreuzung „Stern“ war sie ein Kreisverkehrsplatz mit fünf Zufahrten und etwa 11.000 Kraftfahrzeugen am Tag. Seit vier Jahren befindet sich hier ein niveaugleicher Platzbereich, der zumindest auf den ersten Blick nach Shared Space aussieht und durch weitere Straßenumgestaltungen in der Stadt heute etwa noch 6.000 Kraftfahrzeuge am Tag aufweist.

Während beim Kreisverkehrsplatz etwa 10 % der Fläche für den Fußverkehr zur Verfügung standen und der Rest für den fahrenden Verkehr und die unbenutzbare Mittelfläche; sind es jetzt 60 % nur für den Fußverkehr und der Rest ist eine Mischverkehrsfläche mit Fußverkehrsvorrang. Ziel dieser Maßnahme war es, die Geschwindigkeiten und die „Vorherrschaft“ des MIV zu reduzieren, mehr Flächen für den Aufenthalt von Menschen zu schaffen und vor allem das neu geschaffene Einkaufszentrum besser an die Fußgängerzone „Markt“ fußläufig anzubinden.

Eindeutige Verkehrsregelung

Der gesamte Platz ist an drei Zufahrten durch Zeichen 325 StVO als Verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen, eine weitere Zufahrt aus Richtung Markt ist bereits vorher verkehrsberuhigter Bereich, die fünfte einmündende Straße ist eine abgehende Einbahnstraße. Parken ist grundsätzlich nicht erlaubt, Radverkehr ist in alle Richtungen gestattet.

In den Einmündungen gibt es vier zurückversetzte und nicht im Verlauf der Hauptgehrichtung angelegte rote Pflasterungen, nur ein einziges Mal ist der Pflasterstreifen in der direkten kürzesten Gehrichtung eingebaut worden. Dazwischen wurde auf dem Platz ein großflächiges Karo-Muster mit hellgrauen Streifen auf dunkelgrauem Pflaster eingebaut, ortstypisch für Gehflächen auch in den anderen verkehrsberuhigten Bereichen.

Obwohl damit erst einmal eine große Mischverkehrsfläche entstanden ist, wurden statt der Bordsteine mithilfe von durchgängig recht eng aufgestellten Pollern und Absperrgittern eindeutige Fahrgassen geschaffen. Diese verbinden in einer geschwungenen Form die Zu- und Ausfahrten. An den Absperrgittern wurden teilweise auf der für den Kraftfahrzeug-Verkehr unerreichbaren äußeren Seite Fahrradabstellanlagen eingebaut. Dadurch wurden teilweise die nur von den Fußgängern und Radfahrern benutzbaren Flächen eingeengt.

Es gibt also für den Kraftfahrzeugverkehr eindeutige und wegen des Bus- und Lastkraftwagen-Verkehrs recht breite Korridore. Die Fußgänger dürfen zwar die ganze Fläche bevorrechtigt benutzen, werden aber letztlich ebenso eindeutig über den Platz geführt. Nur der Radverkehr, und das ist ja so ungewöhnlich nicht, benutzt die gesamte Fläche ziemlich freizügig.

Frequentierte Kreuzung

Am 15./16. November 2010 hat der Autor im Zusammenhang mit der FUSS e.V.-Shared Space-Exkursion über zwei Werktage verteilt insgesamt etwa fünf Stunden lang den Verkehrsablauf am „Stern“ beobachtet. Jahreszeitlich bedingt war keine üppige Außen-Gastronomie quer über den Platz zu bewundern und es wurde nicht flaniert, sondern zielgerichtet gelaufen. Mittags bis nachmittags querten deutlich mehr Fußgänger als Kraftfahrzeuge den Platz, früh und abends mindestens ebenso viele und ab etwa 18:00 Uhr deutlich weniger Fußgänger. Der Anteil der Lastkraftwagen war gering, dafür aber gab es teilweise einen sehr starken Busverkehr. In der Rushhour kam es aus der verkehrsstärkeren südlichen Richtung zum Rückstau.

Der Fußverkehr war dagegen an allen Einmündungen in beide Richtungen etwa gleich stark. Auf der nördlichen Seite aus Richtung Markt benutzten die Fußgänger fast ausschließlich die schmalen Streifen am Rande der Fahrgasse, obwohl es sich um einen Verkehrsberuhigten Bereich handelt (siehe Foto 1, oben). Das liegt am starken und häufig auch recht zügigen Kfz-Verkehr, der auf diesem Weg den westlich der Fußgängerzone liegenden großen Parkplatz erreicht. Dadurch gibt es an der Einmündung zum Platz aus Richtung Norden einen zweigeteilten Fußgängerstrom der dann jeweils im Randbereich des Platzes die Fahrgassen quert.

Auf der östlichen Seite haben die Fußgänger hinter den Sperrgittern deutlich mehr Platz (siehe Foto 2). Wer von der westlichen Gehwegseite kommt oder dort hin will, wird – es erinnert fatal an die Kreuzungen in der DDR – per Fußgängersperrgitter daran gehindert, eine direkte Platz-Querung vorzunehmen (siehe Foto 4). Also gingen fast alle Fußgänger wie auf einem „normalen Gehweg“ an der Hausfront entlang. Auf diesen nicht übermäßig breiten Streifen standen Fahrräder und eine Gruppe junger Leute stolperte über das quer aufgestellte Werbeschild. Am Ende der Sperrgitter müssen die Fahrgassen von zwei Platzausfahrten überquert werden. Das ist nicht hervorhebenswert komfortabel (siehe Foto 3).

Unterschiedliches Verkehrsverhalten

Die Autofahrer/innen fuhren an hellen Tageszeiten und bei erkennbaren Fußverkehrsaufkommen in der Regel vorsichtig und auch bremsbereit in den Kreuzungsbereich hinein und mitunter recht zügig bis unangemessen schnell wieder heraus. Von 5 bis 7 km/h (Verkehrsberuhigter Bereich) konnte nicht die Rede sein. In der Literatur (erste Quelle)werden 17 km/h als Geschwindigkeit angegeben, die von 85 % der Fahrzeuge unterschritten wurde.

Die „gefühlten“ Geschwindigkeiten waren in den Beobachtungszeiträumen höher. Dennoch war die Anhaltebereitschaft sehr hoch, allerdings wie bei Fußgängerüberwegen schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtet Alters- und Geschlechtsabhängig (jung - alt, männlich- weiblich) und auch abhängig von der Gruppengröße. Ganz wenige Kraftfahrer/innen versuchten, bei Fußgängergruppen durchzusetzen.

Am Abend fuhr allerdings etwa die Hälfte der Fahrzeuge mit der vor Platzeinfahrt gefahrenen Geschwindigkeit auch über den Platz. Bei etwas selbstbewussteren Fußgängern kam es wegen der Anhalte-Unwilligkeit zu Konflikten, einmal in der Abendstunde sogar zu einem Beinah-Unfall mit dann verbaler Auseinandersetzung. Es sah so aus, als wenn der Verkehrsberuhigte Bereich bei Eintritt der Dunkelheit abgeschafft wird. Der Platz ist allerdings auch schlecht ausgeleuchtet und die Übergänge sind nicht als solche optisch hervorgehoben.

Die Fußgänger können überall gehen, befinden sich aber in der Mitte des Platzes gefühlsmäßig auf der falschen Seite der Leitplanke (Fußgängersperrgitter). Ob der von Mondermann vertretene Shared Space-Grundsatz „Unsicherheit schafft Sicherheit“ hier zutrifft, kann natürlich nur im Vergleich zu den Verkehrsbedingungen für die Fußgänger vor dem Umbau entschieden werden.

In den immerhin fünf Beobachtungsstunden wurden nur etwa zwanzig Fußgänger gesichtet, die auf dem direkten Weg zwischen Markt und Einkaufszentrum quer über den Platz liefen (siehe Foto 1). Im Gegensatz zur Angabe in der Literatur wurden auch nur wenige Menschen gesehen, die - von der einzigen im Verlauf des Weges angelegten roten Pflasterung abgesehen – diese hervorgehobenen Bereiche als „heimliche Querungsanlage“ benutzt haben.

Umfrage: Was würden Sie tun, wenn Sie Brühlers Bürgermeister wären?

„Birgit Cremers: Ich würde die Straßenführung verändern. Ich finde sie z.B. im Bereich (des Einkaufszentrums) am Stern nicht gut. Das ist idiotisch. Man kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Ich wäre wieder für einen Kreisverkehr, wie es ihn früher dort gab.“
Brühler Bilderbogen, Nov. 2010

Dieser Auffassung kann sich der Autor nicht anschließen, aber die sicherlich dahinter steckende Erfahrung ist nachzuvollziehen.

Und es funktioniert doch!

Die wenigen Stündchen Beobachtung reichten aus, um zu erahnen, warum das System dennoch fast unfallfrei funktioniert (vorher gab es allerdings genauso wenig Unfälle): Fußgänger sind in der Regel nette und geduldige Menschen oder halt vorsichtig. Sie verzichten häufig auf ihre Rechte, warten eine Autoverkehrslücke ab, ja winken sogar durch. Und wenn keine Bremsbereitschaft erkennbar ist, nehmen sie ihre Beine in die Hand. Es machte zumindest den Eindruck, dass sich viele Passanten gar nicht im Klaren darüber sind, dass es sich hier um einen Verkehrsberuhigten Bereich mit rechtlich maximal 5-7 km/h, nach der Straßenverkehrs-Ordnung eindeutigen Fußverkehrsvorrang und einer mit Shared Space vergleichbaren Planungsgestaltung handelt.

In dem Augenblick, wo die Fußgänger nicht mehr in der Mehrzahl sind oder Dunkelheit dazu kommt, funktioniert das Modell leider nicht besonders gut.

Schilderstreit

Die Anwendung des Zeichens 325 StVO war und ist strittig. Weil es im Gegensatz zu anderen Verkehrszeichen viele Verhaltensregeln vorgibt, bedarf der Einsatz einer besonderen Vermittlung und Öffentlichkeitarbeit. Da an diesem Platz der Fußverkehr gefördert werden sollte, ist der Einsatz dieses Schildes gerechtfertigt und sinnvoll. Ein generelles Beschilderungsproblem wird allerdings auch hier deutlich: Die Zeichen werden ausschließlich für den Fahrzeugverkehr aufgestellt. Fußgänger sehen sie nicht und wissen deshalb auch häufig nicht, dass sie sich in einem Verkehrsberuhigten Bereich befinden.

Fazit

Politik, Stadtverwaltung und Planer haben in Brühl einen mutigen Schritt getan und damit auch die teilweise zu euphorisch und in der Regel einseitig geführte Diskussion über die kleinen Kreisverkehre infrage gestellt. Eine der beiden Platzüberquerungen ist direkter und angenehmer, als sie bei einem Kreisverkehr gewesen sein kann, die andere mindestens genau so stark genutzte Wegeführung ist leider auch nach dem Umbau nicht besonders vorteilhaft.

Ein Weiteres wurde bei der Beobachtung deutlich: Maßnahmen, die den Fußverkehr fördern und schützen sollen, dürfen nicht zu stark auf helle und schöne Tages- und Wetterbedingungen fokussiert bleiben.

Auch wenn an ein paar Stunden des Tages der Platz voller Kraftfahrzeuge ist, hat der Stadtraum an Qualität gewonnen. Der Schlängelverkehr in Form eines Flusses ist auch im Stadtzentrum netter als ein Springbrunnen in der Mitte eines Kreisverkehrs, an den man nicht herankommt. Dennoch sollte vier Jahre nach dem Umbau überlegt werden, ob man dem Fußgänger an wenigen Stellen „Brücken“ bauen sollte. Auch in Drachten in den Niederlanden wurde über die Hauptzufahrt auf Wunsch der Anwohner später ein Zebrastreifen angelegt.

Die mutigere Alternative wäre die Entfernung der Absperrgitter, damit die Fußgänger den Platz tatsächlich in ihren Wunschlinien nutzen können und den Kraftfahrern deutlicher vor Augen geführt wird, wer hier bevorrechtigt ist. Der „Stern“ in Brühl hat eine flexible Gestaltung, so dass eine Weiterentwicklung denkbar sein müsste.

In Kürze

Auch bei eines der besten deutschen Beispiele einer Verkehrsberuhigungsmaßnahme lohnt es, kritisch zu beobachten, was dort an einem grauen alltäglichen Wintertag so ab-läuft. Fußverkehrs-Audit: Und siehe, es ward gut und punktuell verbesserungsfähig.

Literatur:

  • Jürgen Gerlach, Jörg Ortlepp, Heiko Voß: Shared Space – Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Beispiele und Empfehlungen für die Praxis. Unfallforschung der Versicherer GDV (Hrs.), Berlin 2009, Artikel: Deutschland, Brühl, „Stern“, hauptsächlich aus der Sicht der Unfallentwicklung.
  • Hartmut H. Topp: Shared Space und Begegnungszonen – Erfolgsmodell oder Utopie?, in: Straßenverkehrstechnik 10.2010
  • Diesen Artikel und weitere zum Themenbereich finden Sie unter www.fuss-ev.de > Themen > Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele sowie auf dieser Website auf der http://www.strassen-fuer-alle.de/shared-space.html

Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2011, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.

 

Die Erwartungen der interessierten Öffentlichkeit an „Shared Space“ sind groß. Oft wird fälschlicherweise angenommen, der Begriffe stehe speziell für unbeschilderte Mischflächen. Dabei gibt es vielerlei Umsetzungsvarianten. Manche Praxisansätze sind fußverkehrsfreundlich, andere hingegen sehen nur so aus.

Der Fußverkehr und seine Ansprüche

Aus sozialen, ökonomischen, ökologischen und städtebaulichen Gründen ist das Zu-Fuß-Gehen uneingeschränkt und vorrangig förderungswürdig. Wo Straßenräume, Quartiere und die örtliche Nahversorgung belebt werden sollen, müssen Fußgänger/innen gute Bedingungen vorfinden: eine ansprechende Gestaltung, Störungsfreiheit beim Gehen und Verweilen sowie Freizügigkeit und Sicherheit beim Wechsel der Straßenseite. Vor allem Hauptverkehrsstraßen in Stadt(teil-) und Dorfzentren erfüllen diese Anforderungen häufig noch nicht. Während fast überall in den 1980er bis 90er Jahren Wohnstraßen verkehrsberuhigt wurden, stehen die entsprechenden Aufgaben – und Auseinandersetzungen – bei angebauten Hauptverkehrsstraßen noch bevor.

Höchste Priorität aus Fußgängersicht haben – neben Straßenabschnitten mit nur sehr schmalen Gehwegen – Geschäftsstraßen und andere Situationen, in denen ein sehr hohes ungebündeltes Querungsbedürfnis besteht (sog. linearer Querungsbedarf). Fußgänger/innen sind sehr umwegempfindlich. Trotzdem werden sie oft zur Benutzung von weit entfernten Querungsanlagen gezwungen, nur um Eingriffe in die Qualität des Kfz-Verkehrs zu vermeiden. Dabei werden die Beeinträchtigungen für den motorisierten Verkehr, die von einer fußgängerfreundlichen Lösung ausgehen würden, meistens überschätzt. Durch das EU-Projekt „Shared Space“ haben sich Chancen aufgetan, die oft erfolglosen Bemühungen um Verkehrsberuhigung von Hauptverkehrsstraßen, die in den letzten drei Jahrzehnten fast durchweg abgeblockt wurden, weiter und zu positiven Ergebnissen zu führen.

Shared Space und seine Anwendungsspielräume

„Shared Space“ bedeutet übersetzt „geteilter Raum“, und zwar im Sinne von gemeinsamer Nutzung. Der Begriff bezeichnet kein definiertes verkehrsplanerisches Modell, etwa eine Mischfläche oder eine unbeschilderte Straße (wenngleich beide Aspekte den Idealtypus bilden) [-0-]. Vielmehr handelt es sich um eine Philosophie bzw. einen Prozess mit dem Ziel, die Qualität des öffentlichen Raumes und sozialere Verhaltensweisen zu fördern. Eine besonders intensive, früh einsetzende Partizipation ist Kennzeichen der offiziellen Projekte. Jedoch kommt den beiden prominenten Theoriebausteinen „unsicher ist sicher“ (Risikokompensation, G.J.S. Wilde, 1968 / 1974) sowie „Gleichberechtigte verhalten sich sozialer“ in der Projektpraxis eine geringere Bedeutung zu, als meist vermutet wird. Nachfolgend werden dem theoretischen Idealtypus alternative Ausführungsvarianten, die aktuell mehr oder weniger passend als „Shared Spaces“ diskutiert werden, gegenübergestellt.

Vorab zu den rechtlichen und technischen Normen: Das Straßenverkehrsrecht hat keine Bedenken bezüglich radikaler Varianten ohne Verkehrszeichen. Schließlich fordert die Straßenverkehrsordnung (StVO) eine möglichst sparsame Beschilderung (§ 45 Abs. 9). Dagegen wird die Anordnung echter Mischverkehrsflächen sowie fußgängerfreundlicher Höchstgeschwindigkeiten streng reglementiert, z.T. 2009 nochmals verschärft [-1-]. Die ingenieurtechnischen Richtlinien zur Anlage von Stadtstraßen (RASt 2006) gewähren planerischen Spielraum, sämtliche Ausführungsvarianten anzuwenden. Verbindliche Vorgaben zu Höchst-Kfz-Mengen gibt es nicht, auch nicht für Mischverkehrsflächen: Die „Empfohlene[n] Lösungen für Typische Entwurfssituationen“ der RASt 06 orientieren sich am (unverbindlichen) „Entwurfsgrundsatz“, das Mischungsprinzip nur bei Kfz-Mengen bis ca. 400 Fahrzeugen pro Stunde anzuwenden. Die Herausgeberin, die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), erstellt derzeit Hinweise mit Einsatzempfehlungen für Shared Spaces, u.a. bezüglich Höchst-Kfz- und Mindest-Fußgängermengen. Der Haupttitel wird sich nicht auf „Shared Space“ beziehen, weil der Terminus nur noch für Projekte verwendet werden darf, die zusammen mit dem gleichnamigen Institut in Drachten (NL) bzw. dem Keuning Instituut in Groningen (NL) entwickelt werden bzw. wurden oder von dort Anerkennung erfahren.

Idealtypus ungeregelte Mischfläche ohne Bevorrechtigung einer Verkehrsart

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Regellosigkeit und Gleichberechtigung sind derzeit verkehrsrechtlich weder vorgesehen noch herzustellen. Um sie zu verwirklichen, müsste ein neues Verkehrszeichen in die StVO und die Wiener Konvention eingeführt werden, das für den beschilderten Raum eine Außerkraftsetzung aller StVO-Regelungen bewirkt. Das ist aber auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. (Entwurf des Autors)

Dieser von der Allgemeinheit mit „Shared Space“ assoziierten Anwendungsfall existiert noch nicht. Anders als häufig angenommen, führt die bloße Nichtbeschilderung keineswegs zu Regellosigkeit, Gleichberechtigung zwischen Fuß- und Fahrzeugverkehr [-2-] sowie zur Schaffung einer Mischverkehrsfläche. Letzteres kann nur mittels bestimmter Beschilderung erreicht werden (v.a. Verkehrsberuhigter Bereich oder Fußgängerzone mit unbegrenzter Fahrzeugfreigabe). Wiewohl Regellosigkeit und Gleichberechtigung Schlagwörter vieler Medienberichte, Diskussionen und Projektbeschreibungen sind, gibt es kein einziges „Shared Space“-Vorhaben, bei dem sie ernsthaft angestrebt oder gar erfüllt worden wären.

Varianten mit Schein-Mischfläche und grundsätzlichem Fahrzeugvorrang

  • Unbeschilderte Straßen ohne Markierungen und Ampeln – „Naked Streets“

 

Straßen ohne jegliches Verkehrszeichen (und somit auch ohne straßenverkehrsrechtliche Markierungen) heißen im Ausland „Naked Streets“ (Nackte Straßen). In Deutschland wird diese sehr seltene Variante häufig mit „Shared Space“ gleichgesetzt. Es gelten die Standardverkehrsregeln der StVO, auch bezüglich der Rechte und Pflichten des Fußverkehrs. Der betreffende § 25 StVO wird in den meisten Fachbeiträgen zu Shared Space ausgeklammert, obwohl er gravierende Vorschriften enthält (siehe Kasten). Ohne Beschilderung als Verkehrsberuhigter oder Fußgängerbereich gelten die allgemein befahrbaren Teilflächen der Straße rechtlich als Fahrbahn, beim Fehlen von Seitenstreifen oder Gehwegen grundsätzlich sogar die ganze Straße. Fahrbahnen dürfen nur sehr eingeschränkt begangen werden. „Nackte“ Straßen und Plätze mit niveaugleichem Ausbau können zwar wie Mischverkehrsflächen aussehen, sind es aber verkehrsrechtlich nicht. Damit ergibt sich ein riskanter Widerspruch zwischen „Bau“ (Erscheinungsbild) und „Betrieb“ (örtlicher Verkehrsregelung), was vor allem bei Unfällen zur Schlechterstellung involvierter Fußgänger/innen führt.

Rechte und Pflichten des Fußverkehrs bei normalen und Nackten Straßen (§ 25 StVO)
Wo kein Gehweg oder (abmarkierter) Seitenstreifen sowie kein Verkehrsberuhigter Bereich und keine Fußgängerzone vorhanden sind, darf das Längsgehen nur am Straßenrand stattfinden; Fußgänger/innen müssen bei Dunkelheit, Nebel oder wenn es „die Verkehrslage“ erfordert einzeln hintereinander gehen. Ein Verweilen im zentralen Bereich der Fahrbahn ist nur mit Fahrzeug erlaubt. Zu Fuß ist nicht einmal diagonales Queren gestattet: Das Überschreiten der Fahrbahn ist nur „zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung“ zulässig, und zwar ggf. ausschließlich an Knotenpunkten oder – soweit vorhanden – an LSA-Furten oder Zebrastreifen („wenn die Verkehrslage es erfordert“). Fußgänger/innen sind grundsätzlich wartepflichtig (Fahrzeugvorrang). Genau wie in „normalen“ Straßen haben sie nur gegenüber Fahrzeugen Vorrang, die entweder im Knotenpunkt nach einem Abbiegevorgang kreuzen oder den Gehweg überfahren (vgl. §§ 9 u. 10 StVO).

Das in Hinsicht Nichtbeschilderung konsequenteste Projekt Europas wurde in den Jahren 2004 bis 2008 in Bohmte (Niedersachsen) realisiert. Die dortige L 81 ist die erste und bislang einzige „nackte“ Hauptverkehrsstraße Deutschlands. Da nichts anders beschildert ist, gilt die problematische Regelhöchstgeschwindigkeit 50 km/h (Zeichen 310 „Ortstafel“), die für Fußgänger/innen erheblich mehr Verletzungs- und Sterblichkeitsrisiko bei Unfällen aufweist als Geschwindigkeiten bis 30 km/h. Situationsbezogene Verlangsamungen und eine Bremsbereitschaft zum Schutz von „Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen“ sind zwar generell durch § 3 Abs. 2a StVO vorgeschrieben. Allerdings ist diese variable Verkehrsregel in der Praxis nicht sonderlich wirksam (kaum bekannt, oft missachtet, nicht überwach- und ahndbar). Im Allgemeinen wird eine von „normalen“ Straßen abweichende Gestaltung benötigt, um den Fahrverkehr an die gebotene Verlangsamung bzw. Aufmerksamkeit zu erinnern. Auch zur Ordnung der Kfz-Abstellung werden meist bauliche Maßnahmen nötig sein, weil sonst Beeinträchtigungen des Fußverkehrs, der Verkehrssicherheit (Sichtbeziehungen) und ggf. des Ortsbilds zu erwarten sind. Der Ausnahmefall Bohmte kommt ohne Poller etc. aus: Wegen umfangreicher Abstellmöglichkeiten auf den anliegenden Grundstücken, geringer Nutzungsdichte und -nachfrage besteht dort praktisch kein Parkdruck. Diese günstige Ausgangslage, soziale Kontrolle und persönliche Appelle des Dorfbürgermeisters bewirken, dass der dortige „Shared Space“ kaum beparkt wird (obwohl es an vielen Stellen zulässig wäre – und der Blinden-/Sehbehindertenleitstreifen immer wieder als Parkstreifenmarkierung gedeutet wird). Auf Orte größerer Zentralität lassen sich die Bohmter Lösungen nicht übertragen.

 

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Nackte Landesstraße: L 81 in Bohmte (Niedersachsen). Zumindest die Verkehrsberuhigung einer klassifizierten und mit 12.500 Kfz/Tag befahrenen Straße sowie das kommunale Engagement sind vorbildlich. (Foto: Arndt Schwab)

Für selbstbewusste, gesunde Personen mittleren Alters bietet die Nichtbeschilderung bzw. -beampelung eine Verkürzung der Wartezeiten beim Queren der Fahrbahn. Jedoch für sonstige Personengruppen, Kinder, Senioren und Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung ergeben sich oft längere Wartezeiten und Unsicherheitsgefühle. Nichtbeschilderung in Verbindung mit niveaugleichem Ausbau kann überdies zu verstärkten Konflikten zwischen Fuß- und Radverkehr am Straßenrand führen. In Bohmte etwa fahren fast alle Radfahrer/innen, vielleicht aus Angst vor den Kfz, im begangenen Seitenbereich. Das ist rechtmäßig (Rechtsfahrgebot, § 2 StVO), aber nicht fußgängergerecht. Das praktische Geschehen in diesen „geteilten Räumen“ entspricht dem bei Gemeinsamen Fuß- und Radwegen (Zeichen 240), deren innerörtlicher Einsatz gemäß Stand der Technik möglichst vermieden werden sollte (vgl. RASt 06, ERA 1995, EFA 2001). Ungestörte Geh- und Aufenthaltsflächen gibt es beim Bohmter Modell nicht. Immerhin wurde durch Einsatz von Straßenlampen und Entwässerungsrinnen vorgebeugt, dass die Kfz ebenfalls direkt vor den Hauseingängen fahren. [-3-]

Die vermeintlich „nackten“ Straßen in Drachten und Haren (NL) liegen übrigens z.T. in Parkverbotszonen; es gibt genug Parkangebote außerhalb der betreffenden Straßenräume und höhere Bußgelder als hierzulande fürs Falschparken. Eine weitere Besonderheit der Niederlande, die Nackte Straßen begünstigt: Die haftungsrechtliche Verschuldensvermutung, die Kfz-Fahrer/innen automatisch 50 % (bei Betroffenheit von über 14-Jährigen) bis 100 % (bei Betroffenheit von Kindern) der Schuld im Falle eines Unfalls mit einer/einem nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer/in zuweist

  • Tempo 30

Höchstgeschwindigkeitsbegrenzungen auf 30 km/h oder weniger zählen zu den kostengünstigsten und am schnellsten wirkenden Maßnahmen, um die Verkehrssicherheit und die Querungsbedingungen zu verbessern. Trotz vieler Vorteile (u.a. Verkehrssicherheit, Flächengewinn, Fahrradförderung, Schallschutz, Kosteneinsparung) wird die Anordnung von Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen weiterhin durch die restriktive StVO / VwV-StVO erschwert und häufig vereitelt. [-1-] Erfolgsbedingungen sind Begleitmaßnahmen wie Öffentlichkeitsarbeit, Überwachung und Ahndung sowie die Entfernung oder Anpassung etwaiger LSA (Verkehrsabhängigkeit oder Progressiongeschwindigkeitsanpassung, weitmöglichster Verzicht auf Fahrzeug-Grün-Signale). Beim Zusammentreffen von höheren Kfz-Mengen und linearem Querungsbedarf und/oder fehlenden bzw. zu schmalen Gehwegen genügen reine Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht. Die letzten Monderman-Projekte Drachten und Haren in den Niederlanden kombinieren daher jeweils eine Tempo-30-Zonenregelung mit Zebrastreifen (punktueller Fußgängervortritt) [-6-]; zudem gibt es z.T. weitere vorrangregelnde Markierungen („Haifischzähne“) und Zonen-Parkregelungen. Der zunächst nicht vorgesehene Verkehrszeicheneinsatz ist Folge von Bürgerbeteiligung bzw. behördlicher Vorsicht (Haftungsbegrenzung). Er wird von den niederländischen Shared-Space-Expert/innen unverkrampft als Ausdruck des lebendigen, inhaltlich und zeitlich offenen Prozesses akzeptiert.

Ein fußgängerfreundliches Klima ergibt sich insbesondere bei Kombination von Tempo 30 mit städtebaulich integrierten Mittelstreifen: Die Kraftfahrer/innen werden aufmerksamer und verzichten teilweise auf ihren Vorrang gegenüber Querungswilligen und Querenden. Deshalb anerkennen die beiden o.g. Institute weiche Mittelstreifen-Projekte wie in Ulm (Neue Straße u.a.) oder Köniz (CH; Weiterentwicklung der Frankfurter Straße in Hennef) als „Shared Spaces“, wenngleich sie ohne deren Mitwirkung entstanden sind. Bei günstiger Gestaltung und eher niedrigen Kfz-Mengen wagt es der Fußverkehr bei Tempo 30 sogar, Fahrbahnen nicht nur selbstbewusst zu queren, sondern auch zu begehen. Mancherorts wird das von den Planern bzw. Straßenverkehrsbehörden gewollt oder wenigstens akzeptiert. Ein solches Verkehrsgeschehen kann sicher und städtebaulich gewünscht sein. Nichtsdestotrotz ist zu bedenken, dass der spezifische rechtliche Rahmen (§ 25 StVO, s.o.) das Verhalten der Fußgänger/innen „illegalisiert“, was ihnen bei Unfällen den Schwarzen Peter zuweist.

  • Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich (Tempo 5- bis -30-Zone)

Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche (Zeichen 274.1/274.2) werden zumeist als Tempo-10- oder -20-Zone beschildert. Im Gegensatz zu Strecken-Geschwindigkeitsbegrenzungen kann die Zonenbeschilderung ohne eine überdurchschnittliche Gefahrenlage angeordnet werden (§ 45 Abs. 9 StVO; gilt auch für Tempo 30). Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche können städtebaulich oder politisch z.B. über einen Bebauungsplan, der eine Verkehrsfläche dieser Zweckbestimmung festsetzt, „bestellt“ bzw. vorbereitet werden [-7-]. Örtliche Anordnungsvoraussetzungen sind v.a.: Zentraler „städtischer“ Bereich mit hohem Fußgängeraufkommen, überwiegender Aufenthaltsfunktion, geringem Durchgangsverkehr und ohne Klassifizierung als B-, L- (bzw. S-) und K-Straße, sowie Fehlen bzw. Entfernung etwaiger Lichtsignalanlagen, gelb-weißer Vorfahrtsstraßen-Schilder (Zeichen 306) und benutzungspflichtiger Radwege (§ 45 StVO und VwV zu § 45 bzw. Z. 274.1/274.2).

Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche sind reine Geschwindigkeitsbeschränkungen und haben sonst keinerlei besondere Verkehrsregelung oder Fußverkehrsrechte zur Folge. Dennoch geben bei Verknüpfung mit einer aufenthaltsorientierten (Um-)Gestaltung relativ viele fahrer/innen freiwillig ihr Revierverhalten und somit ihre Vorfahrt auf. Wegen des engen rechtlichen Korsetts für den Fußverkehr (§ 25 StVO, siehe Kasten) ist der Einsatz Verkehrsberuhigter Geschäftsbereiche im Falle linearen Querungsbedarfs nur bei begehbaren Mittelstreifen und allenfalls mäßiger Pkw-Parkdichte als wirklich fußgängerfreundlich zu werten. Trotzdem profitieren die Fußgänger/innen von jeglicher Verlangsamung gegenüber Tempo 50.

Varianten mit Mischfläche undgrundsätzlichem Fußverkehrsvorrang

  • Verkehrsberuhigter Bereich
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Fragwürdige Sonderlösung: Fußgängerzone mit uneingeschränkter Freigabe für Pkw in Verden/ Aller (Rad- und Liefer-Lkw-Verkehr eigentlich nicht erlaubt). Variante wird aus Platzgründen im Text nicht vertieft. (Foto: A. Schwab)

Wo immer möglich, sollte anstatt einer bloßen Temporegelung eine echte Mischfläche angeordnet werden. Der Verkehrsberuhigte Bereich (Zeichen 325.1/325.2 [-1-]) gewährt Fußgänger/innen umfangreiche Sonderrechte: Vorrang vor den Fahrzeugen, Aufenthalts- und Spielrecht auf der ganzen Verkehrsfläche und die Freiheit, nach Belieben kreuz und quer, längs und schräg zu gehen, solange der Fahrzeugverkehr nicht unnötig behindert wird. Jener darf maximal Schrittgeschwindigkeit fahren, Fußgänger/innen nicht behindern und nur in gekennzeichneten Flächen parken (Beschilderung, Markierung oder Farb- bzw. Materialvariation im Belag). Dabei ist grundsätzlich sogar ein linksseitiges Parken erlaubt, auch wenn es sich nicht um eine Einbahnstraße handelt (das entsprechende Verbot gem. § 12 gilt nur für Fahrbahnen, die es hier aber nicht gibt). Störendes Parken sowie zu hohe Fahrgeschwindigkeiten können einfach überwacht und geahndet werden. Außerdem stellt die StVO beim Verkehrsberuhigten Bereich noch einmal ausdrücklich klar, was § 1 schon vorgibt: Fahrzeugführer dürfen Fußgänger/innen nicht gefährden. Die Anordnung anderer Verkehrszeichen samt Markierungen soll in Verkehrsberuhigten Bereichen grundsätzlich unterbleiben, so dass die Zonen intern meistens unbeschildert sind - und damit stadtgestalterisch gleichwertig zu „Nackten“ Straßen.

 

Schwab-D-Duisburg-B400
Geht doch! Verkehrsberuhigter Bereich Opernplatz Duisburg: Fußverkehrsvortritt mit bislang höchster Kfz-Dichte (18.000 Kfz/Tag) und Schritttempo. Verbesserungsoption: Entfernung der Lichtsignalanlagen mit vollständiger Signalfolge beidseits hinter dem Platz (ggf. Dunkelanlage). (Foto: A. Schwab)

Verkehrsberuhigte Bereiche sind schon seit ihrer Einführung 1980 auch außerhalb von Wohnstraßen einsetzbar, eine deutsche Innovation, die später von einigen anderen Ländern übernommen wurde (Niederlande 1988, Schweiz 2002, Belgien 2004, Frankreich 2008). Das zum 1.9.2009 für Neuanordnungen Verkehrsberuhigter Bereiche eingeführte neue Einsatzkriterium „nur (...) mit sehr geringem Verkehr“ in der VwV-StVO [-1-] ist planerisch mit ca. 400 Kfz/h zu übersetzen (siehe Kasten, Buchstabe c). In der Praxis gibt es aber auch bewährte Einsatzfälle mit sehr viel höheren Kfz-Mengen, bis zu 1.800 Kfz/h (Opernplatz Duisburg) [-8-]. Oberhalb von ca. 400 Kfz/h steht nicht mehr der Aufenthalt, sondern die freizügige und sichere Überquerung im Vordergrund. Mit diesem Ziel bietet sich der Einsatz Verkehrsberuhigter Bereiche auch dort an, wo sie oder eine Fußgängerzone eine „normale“ Straße kreuzen (Einsatz z.B. in Bensheim, Karlsruhe, Kelkheim, Koblenz und Köln).

Die Anwendung Verkehrsberuhigter Bereiche bei stärker befahrenen Geschäftsstraßen und Plätzen scheitert häufig an zwei Regelungsinhalten: Einerseits an der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Schritttempo (Gerichtsurteil-Definitionen: 4 – 10 km/h), andererseits an der Erlaubnis zur flächenhaften Durchführung von „Kinderspielen“ (rein theoretische Problematik). Deshalb fordern immer mehr Fachverbände, in Deutschland zusätzlich zum Verkehrsberuhigten Bereich ein Mischflächen-Reglement speziell für stärker befahrene Straßen einzuführen: Die Begegnungszone. Die Begehbarkeit der Straßenmitte von Haupteinkaufsstraßen verstärkt die Anziehungskraft (was für Kleinstädte nachgewiesen wurde [-9-]).

Verkehrsberuhigte Bereiche: Mehr Anwendungsspielraum als meist angenommen

Die VwV-StVO zu Zeichen 325.1 / 325.2 [-1-] hat drei Einsatzkriterien, die häufig als Ausschlusskriterium gedeutet werden, doch sogar die Anwendung in Hauptverkehrsstraßen zulassen:

  • a.) „in der Regel [...] niveaugleicher Ausbau für die ganze Straßenbreite“: Nicht generell Pflicht („in der Regel“ heißt: Abweichungen möglich). Auch planungstechnisch (RASt 06) ist die weitgehende Beibehaltung von Bordsteinen in Einzelfällen zulässig (Kosteneinsparung; Denkmalschutz), sollte mit geschwindigkeitsdämpfenden Elementen kombiniert werden.
  • b) „nur (...) einzelne Straßen oder (...) Bereiche mit überwiegender Aufenthaltsfunktion“: Eine Mehrheit verweilender Personen kann nicht gefordert sein, denn das gleiche Kriterium gilt auch für Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche (§ 45 StVO Abs. 1d). Es geht um das Erscheinungsbild sowie das städtebauliche Ziel (VwV-StVO: „Die gekennzeichneten Straßen müssen durch (!) ihre besondere Gestaltung den Eindruck (!) vermitteln, dass die Aufenthaltsfunktion überwiegt“.
  • c) „nur (...) einzelne Straßen oder (...) Bereiche mit (...) sehr geringem Verkehr“: Oft wird die zum 1.9.2009 eingefügte Klausel als Vorgabe zur Höhe des Fahrzeug- oder gar Kfz-Verkehrs gedeutet. Da die niedrigste Aufkommensklasse der RASt 06 bis zu 400 Fahrzeuge pro Stunde umfasst, ist dieser Wert als fachtechnische Konkretisierung der unbestimmten Rechtsvorgabe bezüglich „sehr geringem Verkehr“ heranziehbar. Die Formulierung lässt sich übrigens so deuten, dass sich das Einsatzkriterium lediglich auf „Bereiche“, also mehrere zusammenhängende Straßen und ggf. Plätze bezieht, nicht aber auf „einzelne Straßen“. Nebenbei: Während Zonen-Geschwindigkeitsregelungen nicht auf klassifizierten Straßen eingesetzt werden dürfen, gibt es keine derartige Einschränkung bei Z. 325.1 / 325.2!
  • Begegnungszone

Die Begegnungszonen in der Schweiz und in Frankreich sind Mischflächentypen, die viele Ähnlichkeiten zum verwandten Verkehrsberuhigten Bereich aufweisen und von ihm die Einsetzbarkeit in Geschäftsstraßen übernommen haben. Zwei von drei Verkehrsregel-Abweichungen begünstigen den Einsatz außerhalb von Wohnstraßen und sind deshalb Grund für diverse Einführungsbestrebungen in Deutschland: Erstens wird eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h gestattet, was mehr Akzeptanz bei Straßenverkehrsbehörden, Ratsleuten, Medien und ÖPNV-Unternehmen erwarten lässt (und abseits von kinderreichen Wohnstraßen verantwortbar erscheint). Zweitens gewährt das Schild keine Spielrechte, womit ein Hauptargument gegen die Anordnung einer Mischflächen entkräftet wird [-10-]. Ferner kann das „Ende“-Schild, anders als in Deutschland, kein Vorfahrt-gewähren-Schild ersetzen (betrifft Fahrzeuge, die in eine unmittelbar anschließende Querstraße ausfahren) [-11-].

Die Schweizer administrativen Einsatzbestimmungen sind teils großzügiger als die deutschen VwV zum Verkehrsberuhigten Bereich [-12-], teils aber auch strenger: Weniger vorbildlich ist etwa die Begrenzung der Zulässigkeit auf „Nebenstrassen“ (Art. 2a Signalisationsverordnung). In beiden Ländern basieren die interessantesten Beispiele auf einer großzügigen Interpretation der Bestimmungen. So gibt es auch Schweizer Anwendungsfälle auf Hauptstraßen (z.B. Grenchen, Burgdorf). Alle haben sich – wie entsprechende Fälle in Deutschland (z.B. Duisburg, Kevelaer und Brühl) – bewährt. Bis auf künstlerisch gestaltete Straßenräume (z.B. St. Gallen, Horgen) gibt es zu sämtlichen Schweizer Anwendungsfällen von Begegnungszonen deutsche Pendants in Form Verkehrsberuhigter Bereiche (z.B. Geschäftsstraßen, Altstadtkerne, Plätze, Bahnhofplätze, Querungsstellen, Wohnstraßen). Etwa 90 % der ca. 600 Schweizer Begegnungszonen sind Wohngebietsanwendungen. Von 1978 bis zur Einführung der ab 1996 erprobten Begegnungszonen Anfang 2002 gab es in der Schweiz die Regelung „Wohnstrasse“. Sie war einzig in Wohngebieten anwendbar, wobei die Straßen – anders als heute – nur kurz und nur sehr schwach befahren sein durften. Auch die „Wohnstrasse“ gestattete schon eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h, wurde aber wegen strenger Auflagen weniger als 100 mal eingesetzt. Schweizer Begegnungszonen belegen im Übrigen die Notwendigkeit, die Beschilderung mit einer entsprechenden Straßenraum(um)gestaltung zu kombinieren. [-13-]

Gänzlich neu und unter Schweizer Einfluss wurde die Begegnungszone vor zwei Jahren in Frankreich eingeführt, wo es zuvor noch keine Regelung aus der Woonerf-Familie gegeben hatte. Das dortige Verkehrszeichen B52 / B 53 integriert die Höchstgeschwindigkeitsangabe nach Schweizer Vorbild, unterscheidet sich jedoch deutlich von den Schildern aus der (Woon-)Erf-Familie, z.B. durch die fast quadratische Form und den Verzicht auf Häuschen, Kind, Ball und Straßenrand-Linie. Damit gibt es keine Verwechslungsgefahr zu den in über einem Dutzend europäischen Ländern gebräuchlichen blauen Schildern mit Spielerlaubnis. Dadurch erhöhen sich die Aussichten auf internationale Kompatibilität des neuen Zeichens, das noch nicht in der Wiener Konvention enthalten ist.

Begegnungszonen – Entwicklung und Herkunft

Internationale Beiträge zu den Verkehrszeichen und -regeln in der Schweiz und in Frankreich

1. NL: Woonerf (1976) – Urkonzept für Wohnsträßchen (mit Spielerlaubnis und Schritttempo):

  • Fußverkehr darf ganze Verkehrsfläche benutzen (Mischungsprinzip)
  • Fußverkehr darf Fahrzeuge nicht unnötig behindern
  • Fahrzeuge müssen nötigenfalls warten (Fußgängervortritt)
  • eingeschränktes Kfz-Halteverbot außerhalb gekennzeichneter Stellplätze

2. B: Woonerf / Zone résidentielle (1977) – Übernahme des Woonerfs mit folgenden Neuerungen:

  • Höchstgeschwindigkeit 20 km/h statt Schrittgeschwindigkeit,
  • Verkehrszeichen mit „Fußgänger/in“, „Kind“, „Kfz“, „Haus“ (und „Ball“ und „Straßenrand“)

3. D: Verkehrsberuhigter Bereich (1980) - Übernahme des Woonerfs mit folgenden Neuerungen:

  • Freigabe der Anwendung außerhalb von Wohngebieten
  • Verzicht auf Höchstverkehrsmengenvorgabe als Einsatzkriterium (bis 2009)

4. CH: Begegnungszone / Zone de rencontre (2001/02) – Modifikation der „Wohnstrasse“ (1979):

  • Name „Begegnungszone“
  • Wegfall der regelungsinkludierten Spielerlaubnis
  • Verkehrszeichen ohne Ball und Straßenrand (mit weißen Rahmen und Schriftzug „ZONE“)
  • Höchstgeschwindigkeitsangabe (20 km/h) auf Verkehrszeichen

5. F: Zone de rencontre (2008) – Übernahme der Begegnungszone mit folgender Neuerung:

  • Eigenständiges Verkehrszeichen ohne „Kind“ und „Haus“, doch mit „Fahrrad“.

Für Regelungen mit dem gebräuchlichen, querformatigen Schild (internationale Zeichen-Nr. F17a / E17b) gewährt das Abkommen den Staaten die Freiheit, Höchstgeschwindigkeiten zwischen Schritttempo und 20 km/h festzulegen. Die Ursprungsregelung, der niederländische Woonerf, hatte erstgenanntes Tempo. Belgien, das erste Land, das die Regelung importierte, nahm dabei schon 1977 die Modifikation bezüglich Tempo 20 vor („Zone résidentielle / Woonerf“). Die dort inzwischen eingeführte Anwendungsbereichsausweitung unter dem Namen „Zone de rencontre“ ist allerdings nicht mit den vorgenannten Begegnungszonen zu vergleichen (siehe Kasten).

„Begegnungszonen“ in Belgien ?
Hauptunterschiede der belgischen „Zone de rencontre“ zu denen in der Schweiz und in Frankreich: Erstens gibt es den Begriff nur regional (Wallonie; in Flamen dagegen Benennung nach dem niederländischen Vorbild „Erf“, d.h. Hof). Zweitens wird das Spielen durch das Verkehrszeichen gestattet. Drittens wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit (20 km/h) nicht auf dem Schild dargestellt. Viertens gibt es kaum Umsetzungsfälle, weil die Behörden die restriktive Einsatzbedingungen analog zur parallel existierenden Wohnstraßen-Regelung anwenden. Vorbildlich ist in Belgien zum einen das Nebeneinander von „Begegnungszone“ und „Wohnstraße“ („Woonerf“ / „Zone résidentielle“), allerdings mit dem gleichen Schild; zum anderen die explizite Anwendungsfallausweitung der „Zone de rencontre“ auf Hochschul-/Schulumgebungen und Erholungsbereiche.

Fazit

Humanere Hauptverkehrsstraße tragen u.a. zur Stärkung der Nahversorgung, zur Aufwertung und Vernetzung von Quartieren und zu mehr (Straßenraum-)Kultur bei. Um nachhaltige Verhaltensänderungen bei den Verkehrsteilnehmern im Sinne von Koexistenz zu erwirken, ist eine entsprechende (Um-) Gestaltung erforderlich – egal ob es sich um unbeschilderte oder beschilderte Varianten handelt. Die besondere Bedeutung von „Aufenthalt“ und Fußverkehr muss erkennbar sein. Dementsprechend sollte ein überdurchschnittliches Fußverkehrsaufkommen längs und v.a. quer zum Fahrzeugverkehr gegeben sein. Eine wesentliche Erfolgsbedingung ist darüber hinaus, dass der Parkdruck gering ist (Angebot ausreichender Abstellmöglichkeiten im Nahbereich, allenfalls sparsame und geordnete Zulassung von Halte-/Park- bzw. Liefervorgängen von Kfz). Beruhigend wirken generell integrierte sowie vor- und nachgelagerte kleine Kreisverkehrsplätze. Sie senken die Geschwindigkeit unbehinderter Fahrzeuge im Vergleich zu vorfahrtsbeschilderten und beampelten Knotenpunkten (Wegfall von Sog-Grün-Raserei). Eine Verdrängung von Pkw-Verkehren ergibt sich daraus nicht, weil meistens die Durchschnittswartezeiten sinken - und je nach angeordneter Höchstgeschwindigkeit - sogar Fahrzeitverkürzungen auftreten können. Auch der unbeschilderte Pseudo-Kreisel in Bohmte hat die beschriebenen Wirkungen [-14-].

In Anbetracht der angespannten Finanzsituation und im Hinblick auf die Verringerung der Anwohner-Erschließungsbeiträge sollten verstärkt kostengünstige Lösungen erprobt und eingesetzt werden, wobei besonderer Wert auf städtebauliche Qualität zu legen ist. Während schon zwei Bundesländer Modellvorhaben angestoßen haben, scheint die Aufgabenstellung, die Verkehr, Bau und Städtebau betrifft, beim gleichnamigen Bundesministerium noch nicht angekommen zu sein.

Eine entwurfstechnische Herausforderung besteht bezüglich der Gestaltung von Blinden- und Sehbehindertendetails in niveaugleich ausgebauten bzw. weich separierten Straßen und Plätzen. Die Elemente müssen natürlich erkennbar sein, damit sie benutzbar und vor einer Zustellung durch Fahrzeuge und andere Gegenstände geschützt sind. Gleichzeitig sollten sie auch gestalterisch integriert sowie unmissverständlich sein (keine Fehldeutung als Markierung). Eine frühzeitige und umfassende Partizipation der Betroffenen ist wichtig.

Verkehrsberuhigung und ÖPNV

Linienbus- und Straßenbahnunternehmen neigen dazu, jede Verminderung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu problematisieren. Hier ist im Einzelfall zu prüfen, ob der ÖPNV tatsächlich Nachteile erfährt, zumal der konkurrierende Motorisierte Individualverkehr (MIV) gleichermaßen verlangsamt wird. Wo tatsächlich durch wenige Sekunden Fahrzeitverlängerung Anschlüsse entfallen oder zusätzliche Fahrzeuge und zusätzliches Personal finanziert werden müssen, sollten Beschleunigungsmaßnahmen an anderer Stelle geprüft werden. Im übrigen ist zu bedenken, dass Kreisverkehrsplätze den Fahrkomfort der Busfahrgäste bei geradeaus fahrenden und linkssabbiegenden Linien beeinträchtigen können. Ggf. ist übergeordnet abzuwägen. Im Regelfall stellen erhöhte Haltestellenkanten in die betreffenden Platz- und Straßenräume keine Barriere für den Fußverkehr dar, solange es sich nicht um Hochbahnsteige handelt; für Mobilitätsbehinderte sind an geeigneten Stellen Bordabsenkungen vorzusehen.[vgl. -16-]

Durch eine Bevorrechtigung des Fußverkehrs und sein linienhaftes freie Queren sind grundsätzlich keine wesentlichen Fahrzeitverluste zu erwarten, da Fußgänger/innen dem ÖPNV gegenüber häufig auf ihren Vorrang verzichten (z.B. in Biel/CH ermittelt). Niedrigere zulässige Höchstgeschwindigkeiten können im Einzelfall zu Mehrfahrzeiten führen; oft kommt es aber bei Ersatz von LSA durch Kreisverkehrsplätze sogar zu Fahrzeiteinsparungen (z.B. in Drachten und Bohmte ermittelt), von denen auch der ÖPNV profitiert. Die Hauptbedenken der ÖPNV-Unternehmen gegen eine Bevorrechtigung des Fußverkehrs resultieren aus der problematischen Rechtslage, die eine persönliche Haftung von Busfahrer/innen im Falle eines Personenschadens impliziert und damit zu großen unternehmensinternen Widerständen durch die Personalvertretungen der Unternehmen führt. Für den ÖPNV zahlt es sich aus, weiterhin direkt in die Geschäftsstraßen zu fahren (wichtige Zeil- und Quelorte von Fahrgästen); sonst würden nicht etwa mindestens ein Dutzend Linienbusunternehmen Fußgängerzonen befahren (z.B. in Bayreuth, Hanau, Göttingen).

Die Shared-Space-Diskussion bringt Schwung in die allerorten notwendige Verkehrsberuhigung angebauter Hauptverkehrsstraßen, eine noch selten von den Verantwortlichen erkannte und noch seltener angepackte oder gar gelöste Aufgabe. In Deutschland und Österreich sind speziell umweltbewegte und ansonsten eher deregulierungskritische Personenkreise von der Idee der unbeschilderten „Naked Street“ begeistert. Aus Faszination für die vermeintliche Regellosigkeit wird übersehen oder gebilligt, dass es sich dabei um eine Variante handelt, die Fahrzeuge bevorrechtigt, Fußgängerrechte einschränkt, das Ziel der selbsterklärenden Straße verfehlt, Tempo 50 beinhaltet und damit konträr zu den Belangen von Fahrradverkehr und Lärmschutz steht. Solange es kein straßenverkehrsrechtliches Instrumentarium zur lokalen Einführung einer Gleichberechtigung zwischen Fuß- und Fahrzeugverkehr gibt, stellt sich zwangsläufig die Frage, welche der beiden Verkehrsarten den juristischen Vorrang erhält. Aus Fußgängersicht sind Betriebsvarianten mit Fußverkehrsvortritt (Verkehrsberuhigter Bereich, Begegnungszone) eindeutig gegenüber unbeschilderten Varianten und reinen Temposenkungen (30 km/h, Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich) vorzuziehen. In Straßen mit großem linearen bzw. flächigem Querungsbedarf bzw. ohne ausreichende Gehwegbreiten muss der Fußverkehr im Mittelpunkt stehen. Hierfür spricht auch die gesetzliche und ethische Verpflichtung zur Barrierefreiheit – selbstständige Nutzbarkeit für alle, nicht zuletzt Kinder und Alte. Verkehrsberuhigte Bereiche und Begegnungszonen sind das ästhetische und funktionale Optimum, beinhalten sie doch überall einen flächenhaften Zebrastreifen, der unsichtbar ist und somit gestalterisch nicht stört. Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche können als Zwischenlösung zum Einsatz kommen, wo die Straßenverkehrs- oder -baubehörden unter Berufung auf den bisherigen, unzureichenden Rechtsrahmen andere Anordnungen verweigern.

 

Schwab-E-FUSS-Vorschlag-B600
Spielstraße + Begegnungszone: Vorschlag von FUSS e.V. zur Modernisierung der StVO (2008); Bausteine einer plausiblen Höchsttempo-Hierarchie 10 – 20 – 30 – 50 km/h

Übrigens erfordern auch „nackte“ Straßen i.d.R. mindestens ein Verkehrszeichen: Wenn sie Knotenpunkte mit einer vormaligen Vorfahrtsstraße umfassen, muss deren Ende beschildert werden (z.B. mit Zeichen 307 wie in Bohmte). Warum nicht gleich ein Schild, das auch das Parken ordnet, dem Fußverkehr Freiheiten und Rechtsschutz gewährt und die zulässige Höchstgeschwindigkeit humanisiert (Verkehrsberuhigter Bereich bzw. Begegnungszone)? Kommunikative Interaktion zwischen Verkehrsteilnehmer ist physiologisch nur im niedrigen Geschwindigkeitsspektrum möglich, weil Menschen evolutionär nur im Nahbereich ihres eigenen Lauftempos (ca. 20 km/h) ein breites Sichtfeld haben und wahrnehmen können, was links und rechts geschieht. Hinsichtlich der Verkehrssicherheit sind in bislang unfallmäßig unauffälligen Straßenabschnitten durch die o.g. Ansätze i.d.R. keine auffällligen Sicherheitsvorteile zu erwarten, aber auch keine Sicherheitsnachteile. [-15-]

Die bundesweite Umsetzung der längst überfälligen Verkehrsberuhigung von Hauptverkehrsstraßen muss durch Weiterentwicklung des Straßenverkehrsrechts erleichtert und beschleunigt werden (Einführung der Begegnungszone, Regel-Innerortsgeschwindigkeit 30 km/h oder zumindest Ermöglichung von Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Hauptverkehrsstraßen aus städtebaulichen Gründen). Bis dies erfolgt, können und sollten die Kommunal- bzw. Landesverwaltungen das bisherige Instrumentarium fußverkehrsfreundlich(er) auslegen und anwenden.

Anmerkungen

0. Bereits Hans Monderman (1944-2008) bezeichnete Straßenraumumbauten, die dem Trennprinzip folgen, als Shared Space: Zum einen sein Projekt Laweiplein in Drachten, ein konventioneller Kleiner Kreisverkehrsplatz mit Verkehrszeichen bzw. Markierungen zur Vorrangregelung sowie einer üblichen, nicht begehbare Mittelinsel (städtebauliche Aufwertung gegeüber der vorherigen beampelten Kreuzung); zum anderen das von anderen Akteuren realisierte Mittelstreifen-Projekt Kensington High Street in London. - Der Begriff „Shared Space“ ist die freie englische Übersetzung des niederländischen Arbeitstitels „Ruimte voor allen“ („Raum für alle“), den der 2008 verstorbene Planer Hans Monderman geprägt hat (durch Ben Hamilton-Baillie).

  1. Die zum 1.9.2009 in Kraft getretene Novelle von StVO wurde vom Bundesverkehrsminister im April 2010 vorübergehend außer Kraft gesetzt. Sie sieht u.a. die Umbenennung der bisherigen Verkehrszeichen 325 und 326 in 325.1 und 325.2 vor. Für den Fußverkehr beinhaltet sie Verschlechterungen, etwa die Aufgabe von Schritttempo als zulässige Höchstgeschwindigkeit bei Fußgängerbereichen oder Gehwegen mit Fahrzeugfreigabe. Diese Tempoveränderungen sowie das neue, empirisch unbegründete Verkehrsmengenlimit bei der Anordnung Verkehrsberuhigter Bereiche in der VwV-StVO müssen aus Sicht des FUSS e.V. rückgängig gemacht werden – am besten schon mit der „Reparaturnovelle 2010“.
  2. Im Ansatz nichts Neues: Der nicht beschlossene Verordnungsvorentwurf zur Einführung des Verkehrsberuhigten Bereichs in Deutschland von 1979 sah vor, dass in jenen die Vorfahrtsregelung zwischen Fahrzeugen an Knotenpunkten durch gegenseitige Verständigung erfolgt.
  3. Leider fordern die RASt 06 seitliche Schutzzonen beim „Mischungsprinzip“ nur zur Vermeidung der Kfz-Befahrung (6.1.1.11). Für Anwendungsfälle von Z. 325 hat(te) die VwV-StVO in der Fassung bis 31.8.2009 eine Klarstellung, dass bestimmte Teile der Mischfläche von der Befahrung – auch durch Fahrräder – freigehalten werden können. Zum 1.9.2009 gestrichen, sollte er mit der gerade entstehenden „Reparatur“ der StVO wieder aufgenommen werden.
  4. Genau wie in jeder „normalen“ Straße haben Fußgänger/innen nur gegenüber Fahrzeugen Vorrang, die entweder im Knotenpunkt nach einem Abbiegevorgang kreuzen oder den Gehweg überfahren (vgl. §§ 9 u. 10 StVO). Im Hinblick auf das Vorrangverhältnis von Fuß- und Fahrzeugverkehr besteht übrigens ein redaktioneller Klarstellungsbedarf bei der StVO-Formulierung. Bei Verkehrsberuhigten Bereichen wird die bisherige Formulierung zumeist irrtümlich als Gleichberechtigung Aller gedeutet.
  5. Die deutschen Richtlinien für die Anlage und Ausstattung von Fußgängerüberwegen (R-FGÜ 2001) halten Zebrastreifen in Tempo-30-Zonen für „in der Regel entbehrlich“ und ließen Neuanordnungen der meisten Shared-Space-Zebrastreifen in Haren und Drachten wegen der dortigen Kfz-Mengen nur mit Mittelinseln zu.
  6. In speziellen Situationen können Zonen-Beschilderungen (s.u.) verkehrsrechtlich eine größere Realisierungsschance haben als Streckenbeschilderungen.
  7. Für Tempo-30-Zonen gibt es daneben ein verkehrsrechtliches Antragsrecht der Gemeinden (VwV-StVO zu § 45). Wenn sie kein Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich sind, bestehen z.T. abweichende Anordnungsvoraussetzungen.
  8. Erhebung der Planersocietät Dortmund, repräsentativer Werktag 2009/10
  9. Vgl. Studien von Lars Gemzøe, Center for Public Space Research / Architekturfakultät der Kunstakademie Kopenhagen, zit. n.: Schepel, Steven: Woonerf revisted. Delft as an example. Manuskript zur Tagung Childstreet 2005, S. 12
  10. Dennoch kann das Spielen in Begegnungszonen zugelassen sein, wie z.B. in der Schweiz durch eine schilderunabhängige, allgemeine Regelung (Art. 46 bzw. 50 Verkehrsregelnverordnung).
  11. Das Zusatzabkommen zur Wiener Konvention gestattet beide Alternativen nationalstaatlicher Regelungen zum „Ende“-Schild.
  12. Interessant für Anwendungsfälle in Geschäftsstraßen kann die Schweizer Pflicht zu Vor- und Nachuntersuchungen sein. Die Vorgabe zur Ausbildung von „Toren“ am Beginn und Ende ist von der originalen Woonerf-Regelung 1976 aus NL übernommen.
  13. Beispiel: In der rein beschilderten Anfangsphase der Begegnungszone „Bahnhofstrasse“ in Grenchen (CH) kam es kaum zu Verlangsamungen des Kfz-Verkehrs. Vgl.: Meister, Parzifal: Begegnungszone wird nicht beachtet. In: Berner Zeitung / Solothurner Tagblatt, Online-Ausgabe, Aktualisiert am 23.1.2009, www.bernerzeitung.ch/region/solothurn/Die-ignorierte-Begegnungszone/story/27942769 (Abruf 15.6.2010)
  14. Vgl. Bode, Wolfgang et al.: Verkehrsuntersuchung in der Gemeinde Bohmte unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungen des Shared Space Bereiches. Auftraggeber: Gemeinde Bohmte. Osnabrück 2009
  15. Gerlach, Jürgen / Ortlepp, Jörg / Voß, / Heiko: Shared Space. Hrsg.:. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Berlin 2009
  16. Vgl. Nickel, Bernhard E.: Shared Space und der ÖPNV. In: Der Nahverkehr 10/2009, S- 20-26

 

Dieser Artikel von Arndt Schwab ist - stark verkürzt – in http://www.verkehrszeichen-online.de/, H. 2/2010, erschienen.

 

Bericht über die Exkursion von FUSS e.V.

Shared Space - was ist das und wie funktioniert's? 20 Teilnehmer/innen aus drei Kontinenten besichtigten bei der Fachexkursion von FUSS e.V. im November 2011 gute sowie diskussionswürdige Beispiele. Mit Zügen und natürlich zu Fuß wurden vier Projekte in NRW und Niedersachsen erkundet, die jeweils beachtliche Kfz-Mengen aufweisen.

Hennef (Sieg): Frankfurter Straße, Multifunktionaler Mittelstreifen

Auch das ist „Shared Space“ (wegen der fußverkehrsfreundlichen Gestaltung): Klassische Aufteilung in Fahrbahn, Parkstreifen und Gehwege, doch gute Überquerbarkeit auf ganzer Länge (ca. 550 m). Erreicht wird das durch mitten in der Fahrbahn stehende Straßenleuchten, die einen niveaugleichen Schutzraum in schaffen und zu einem relativ niedrigen Kfz-Tempo führen. Obwohl 50 km/h erlaubt sind, liegt die „V85“, das von 85 % der Kfz eingehaltene Tempo, bei ca. 30 bis 35 km/h. Wegen der Landesstraßen-Klassifizierung gibt es keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h. Die Frankfurter Straße war das erste Projekt mit vertikalen Elementen mitten in der Fahrbahn, entstanden bereits 1989/90.

In Deutschland gibt es überraschenderweise nur wenige direkte Folgevorhaben, z.B. in Puhlheim (ca. 1995) und Kerpen-Sindorf (2010). Bekannter ist der modernere Schweizer Nachbau in Köniz bei Bern (2003/04). Die Idee stammt vom Aachener Planer und Regelwerksautor Reinhold Baier, der 2009 auch eine Evaluierungsstudie im Auftrag der Stadt Hennef durchführte. Dort wird aufgezeigt, dass Kfz-Fahrer/ innen, die Fußgänger/innen begegnen, mehrheitlich freiwillig auf ihren Vorrang verzichten, um jene queren zu lassen. Das Projekt, das Fachleute auch international noch nach 20 Jahren begeistert, ist lokal umstritten. Immer wieder werden Ampeln als Querungshilfe gefordert. Dieser Bedarf wurde von Seiten der Exkursionsteilnehmer/innen nicht gesehen. Sie kritisierten z.T. die Freigabe der Gehwege für Fahrräder, die in Anbetracht der Kfz-Geschwindigkeiten nicht sein müsste – und Konflikte mit den Fußgänger/innen bewirkt. In der Evaluierungsstudie werden Maßnahmen vorgeschlagen, die den Radverkehr verstärkt zur Fahrbahnnutzung motivieren sollen (z.B. punktuelle Umbauten an den radwegausgestatteten Zuführungsstrecken).

Die Nutzbarkeit für Blinde und Sehbehinderte scheint akzeptabel zu sein, weil die Fahrbahnmitte durch einen ca. 1 m breiten Streifen mit hellem, groben Pflaster gekennzeichnet ist. Weitere Ausführungen in mobilogisch! 2/09 (Arndt Schwab: Mittelstreifen: Neue Projekte, gute Erfolge)

Brühl: Stern, Verkehrsberuhigter Bereich

Der Platz, von dem 5 Straßen abzweigen, zeigt im Sommer ein gedeihliches Miteinander von dichtem Fuß- und Fahrzeugverkehr. Der Fußverkehr hat Vorrang, Fahrzeuge dürfen nur Schrittgeschwindigkeit fahren. Die Fahrgasse trennt die Sommer-Freisitzbereiche eines Restaurants in zwei Teile. Eine Stichprobenbefragung unter den Bedienungen ergab, dass sie trotz häufiger Querungen noch keine ernsthaften Probleme mit den kreuzenden Fahrzeugen hatten. Die begrüßenswerte Lösung könnte noch fußverkehrsfreundlicher werden. Vorschlag von Exkursionsteilnehmer/innen: Dauerhafter Entfall der kontraproduktiven Absperrgitter. Eine vertiefte Analyse unter Berücksichtigung fußverkehrsschwacher Zeiten ist auf Seite 38 dieser Ausgabe zu finden.

Duisburg: Opernplatz, Verkehrsberuhigter Bereich

Auch in Duisburg überfahren die Fahrzeuge kanalisiert einen Platz, wobei die Fahrgassen durch einen Belagwechsel und eine kleine Höhendifferenz ausgebildet werden, nicht durch Poller und Gitter wie in Brühl. Das Duisburger Projekt wurde in mobilogisch! 3/2008 bereits unter dem Namen der zuführenden „Landfermannstraße“ beschrieben. Auch auf dem Duisburger Platz hat der Fußverkehr Vorrang vor den Fahrzeugen, was sich nun nach über zwei Betriebsjahren sehr gut eingespielt hat: Die meisten Kfz überschreiten die zulässige Schrittgeschwindigkeit nur wenig und praktizieren ihre Wartepflicht vorbildlich. Das Geschwindigkeitsniveau ist gegenüber der Anfangszeit stark abgesunken. Die Gewöhnung führte hier nicht zu einer Abstumpfung, sondern zu einer Sensibilisierung der Fahrer/innen. Durch den geplanten Wegfall einer ca. 100 m nachgelagerten Lichstsignalanlage sind weitere Verlangsamungen des Kfz-Verkehrs zu erwarten. Das sehr friedliche und ruhige Verkehrsgeschehen tagsüber beeindruckte die Exkursionsteilnehmer/ innen sehr. Das Projekt ist die fußgängerfreundlichste Landesstraße Deutschlands.

Die theoretische Zulässigkeit von Spielen auf der ganzen Mischfläche ist praktisch kein Problem, weil weder Kinder noch Erwachsene dort spielen. Ausnahme: Durch Aufrufe zum Fußballspielen auf dem Opernplatz wollten einige Lokalpolitiker den Verkehrsberuhigten Bereich in den ersten Wochen verunglimpfen. Auch einigen Verkehrsjuristen ist das sehr erfolgreiche Modell der Anwendung des Verkehrszeichens 325 „Verkehrsberuhigter Bereich“ ein Dorn im Auge: Obwohl die Anordnung im Einklang mit der damals geltenden Fassung der Verwaltungsvorschriften zur StVO (VwV-StVO) erfolgte, wollen sie das Projekt juristisch beenden, weil die VwV-StVO seit September 2009 eine Einsatzbegrenzung vorgibt, die fachlich und empirisch ungerechtfertigt ist: Auf Straßen und Bereiche mit „sehr geringem Verkehr“. Die Kfz-Menge beim Duisburger Projekt liegt bei ca. 13.000 Kfz – wie in Hennef und Bohmte. 2010 entstanden in Duisburg 5 neue Verkehrsberuhigte Bereiche ähnlicher Ausrichtung, über die hier gelegentlich berichtet wird.

Bohmte: Bremer Straße, Nackte Straße

Das radikale Beispiel von unbeschildertem Shared Space in Bohmte durfte bei der Exkursion nicht fehlen. Die dortige Naked Street ist für viele immer noch der Inbegriff von Shared Space, was wie oben aufgezeigt nicht angemessen ist. Überhaupt ist der Ansatz der Nichtbeschilderung auf Dauer nicht sehr fußverkehrsfreundlich. Inzwischen zeigt sich beispielsweise, dass die anfangs recht niedrigen Fahrgeschwindigkeiten auf ungefähr die zulässigen 50 km/h angestiegen sind. Daher hat die Gemeinde nun nach zwei Betriebsjahren eine beschilderte (!) Höchstgeschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h erbeten. Das lehnt die Straßenverkehrsbehörde mit Hinweis auf die Landesstraßenklassifizierung aber ab. Der Gewöhnungseffekt hat hier genau die umgekehrte Wirkung wie in Duisburg. Dort hat die Kenntnis der Situation zu einer nachhaltig langsamen Fahrweise geführt, in Bohmte jedoch zu einer normal schnellen. Daran hat möglicherweise auch die geringe Fußgängerdichte in Bohmte Anteil.

Gerhard Renzel vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband bestätigte vor Ort, dass die kurz vor Baufertigstellung noch rasch nachgerüsteten Leitelemente für Blinde und Sehbehinderte eine selbstständige Begehung des Straßenraums für diese Nutzergruppen erlauben. Er wies aber auf die Problematik des immer wieder auftretenden (und z.Z. noch allgemein gestatteten!) Beparkens der Bodenindikatoren hin; diesbezüglich müsse die StVO ergänzt werden. Die Gemeinde Bohmte plant eine räumliche Ausweitung des Straßenraumumbaus um ca. 600 m in Richtung Bahnhof/ Rathaus. Der neue Abschnitt soll auch ein „Shared Space“ werden, allerdings nach anderen Prinzipien gestaltet und betrieben als das Bestandsvorhaben.

Hintergrund Shared Space

Der Begriff „Shared Space“ bezieht sich nach neuerer offizieller Definition (Shared Space Institute Drachten) nicht mehr nur auf völlig unbeschilderte Straßen ohne Markierungen (sog. „Naked Streets“), sondern beschreibt vielerlei ampelfreie Straßenraumaufwertungsmaßnahmen bzw. -prozesse, die auf ein Miteinander von Fuß- und Fahrzeugverkehr zielen (vgl. www.strassen-fuer-alle.de/Shared-Space-aus-Fussverkehrssicht.html).

In Kürze

FUSS e.V. präsentierte im Rahmen einer Exkursion vier verschiedene Variationen von Shared Spaces. Typisches Fazit aus der Teilnehmerschaft: „Brühl (Platz als Verkehrsberuhigter Bereich) war zwiespältig, Hennef (Mittelstreifen als Querungsanlage) erstaunlich, Duisburg (Verkehrsberuhigter Bereich einer Hauptverkehrsader) sehr überzeugend und Bohmte (Nackte Ortsdurchfahrtsstraße) ernüchternd.“

Info:

Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2011, erschienen.

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In Deutschland planen mehrere Kommunen Gestaltungen nach dem Shared Space-Prinzip – so wurden in Hamburg die Voraussetzungen für die Umsetzung von Gemeinschaftsstraßen „in Weiterentwicklung“ des Shared Space-Prinzips festgelegt. Sabine Lutz vom Keuning bzw. Shared Space Institut bezeichnet in ihrem offenen Brief in der mobilogisch! 3/2009 Gemeinschaftsstraßen als Rückentwicklung, da es sich ausschließlich um ein Verkehrskonzept handele, während Shared Space einen Paradigmenwechsel darstellen würde. Derweil greifen die Städte Mülheim und Arnsberg in Nordrhein-Westfalen die Prinzipien auf und beteiligen sich am Modell „SimplyCity“ – Grund genug, um aktuelle Analysen und Empfehlungen zu den angesprochenen Gestaltungskonzepten zu erörtern.

Neue Veröffentlichungen zu Shared Space verfügbar

Aktuelle Erkenntnisse, Einschätzungen und Empfehlungen zu Shared Space Prinzipien sind in Veröffentlichungen vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV [1], vom Allgemeinen Deutschen Automobil-Club ADAC [2], von der Bundesvereinigung der Straßenbau- und Verkehrsingenieure BSVI [3] sowie von der Heinrich-Böll-Stiftung u.a. [4] dokumentiert. Auch wenn derzeitige Vertreter von Shared Space in den Niederlanden das möglicherweise anders sehen oder vermarkten, als es ursprünglich von Herrn Monderman geplant war, kommen alle Veröffentlichungen zum gleichen Schluss: Shared Space ist nicht auf jeder Straße beliebig umsetzbar. In [1], [2] und [3] wird empfohlen, den Anwendungsbereich auf bestimmte Situationen zu begrenzen, ein neues Verkehrszeichen in der Straßenverkehrsordnung aufzunehmen und bis dahin derartige Bereiche mit dem Ziel der Beschränkung auf niedrige Geschwindigkeiten und der Regelung bzw. Vermeidung des Parkens auszuschildern und als Pilotprojekte zu behandeln.

Definitionen von Shared Space

Bei der Interpretation dieser Empfehlungen müssen die möglichen und geläufigen Definitionen von Shared Space berücksichtigt werden, die in den Grundtendenzen im Übrigen mit den Gemeinschaftsstraßen in Hamburg und mit Simply City in Nordrhein-Westfalen übereinstimmen. Bei Shared Space handelt es sich in erster Linie um eine Haltung, die, bezogen auf den Verkehr, als eine Gestaltungsphilosophie oder ein Gestaltungsprinzip zum Tragen kommt. Shared Space soll vor allem zu mehr Rücksichtnahme im Verkehr führen. Shared Space ist somit tatsächlich primär „kein Verkehrskonzept“, wie es Sabine Lutz im offenen Brief betont, und auch keine festgelegte Gestaltungslösung für Straßenräume. Straßenräume sollen in partizipativen Prozessen ergebnisoffen so gestaltet werden, dass alle Funktionen in ein Gleichgewicht gebracht werden und Kraftfahrzeuge eher als Gäste in diesen Räumen unterwegs sind.

Zur konkreten Ausgestaltung bietet Shared Space kein Fertigrezept an. Fragt man das Keuning Instituut in den Niederlanden, so ist Shared Space alles, was zu mehr Rücksichtnahme führt und mit dem Institut und den Bürgern vor Ort entwickelt wird. Das Keuning Institut wählt bewusst keine nähere Definition, um die Handlungsoptionen nicht einzuschränken.

Da es mittlerweile in vielen Ländern Straßenräume gibt, die als Shared Space bezeichnet und ohne jegliche Beteiligung des Instituts umgesetzt wurden und verschiedene Probleme aufweisen, wurde in den Niederlanden zwischenzeitlich das Shared Space Institut gegründet und der Begriff „Shared Space“ rechtlich geschützt. Sofern das Shared Space-Prinzip straßenplanerischen Bezug aufweist, geht es nach dem Institut um neue Methoden zur Entwicklung öffentlichen Straßenraumes.

Anwohner beteiligen!

Insbesondere die Beteiligung der Anwohner/ innen soll dazu beitragen, dass der Straßenraum entsprechend der vorliegenden Wünsche gestaltet wird. Aus Straßen, Plätzen und Knotenpunkten sollen gemeinsam genutzte und belebte Orte mit mehr Lebensqualität werden. Die neue Gestaltungsphilosophie oder das neue Gestaltungsprinzip soll dabei dazu beitragen, die veränderte Haltung zu unterstützen.

Die prozessualen Aspekte des Shared Space-Prinzips, die in verschiedenste Fachdisziplinen, wie Soziologie, Pädagogik und Psychologie hineingreifen, werden in den neuen Veröffentlichungen und auch in diesem Beitrag nicht weiter behandelt. Zielgruppen sind vielmehr Verkehrsplaner, Entscheidungsträger und auch Bürger, die konkrete Straßenplanungen nach dem Shared Space-Prinzip initiieren, planen und umsetzen möchten. Aufgrund der bislang sehr weit gefassten Möglichkeiten zur straßenplanerischen Umsetzung des Prinzips ist es Ziel der Veröffentlichungen, die Handlungsspielräume zur verkehrssicheren, leistungsfähigen und stadtverträglichen Verkehrsgestaltung einzugrenzen und darzulegen.

Erfahrungen mit Shared Space in Bohmte: Unfallentwicklung

Die Gemeinde Bohmte nimmt bislang als einzige deutsche Kommune an dem EU-Projekt Shared Space teil. Die Bremer Straße wurde im Mai 2008 in umgestalteter Form eröffnet und in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt.

Die Betrachtung des Unfallgeschehens im ersten Jahr nach der Umgestaltung lässt tendenziell eine deutliche Zunahme insbesondere der Bagatellunfälle erkennen. Im Zeitraum Juni 2008 bis August 2009 sind insgesamt 23 Unfälle polizeilich registriert worden. Zwei Unfälle hatten leichte Verletzungen zur Folge. Während in der ehemaligen signalisierten Einmündung durch die Umgestaltung zu einem „Kreisverkehrsplatz“ kaum noch Unfälle zu beobachten sind, haben sich auf dem anschließenden Streckenbereich deutlich mehr Unfälle ereignet als in den Jahren zuvor. Auch ist die Anzahl der Unfälle mit Verletzten bislang auf dem gleichen, wenn auch niedrigen, Niveau geblieben. Wie in den Jahren zuvor wurden bislang keine Unfälle mit Fußgängern festgestellt. Die Anzahl der Unfälle mit Radfahrern hingegen hat zugenommen. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Anwohner hat sich nach einer Befragung durch die FH Osnabrück nicht verbessert, 50 Prozent der Befragten fühlen sich unsicherer als vor dem Umbau [5].

Erfahrungen mit Shared Space in Bohmte: Sehbehinderte

Wenn auch die Haltung des DBSV gegenüber Shared Space insgesamt aus verständlichen Motiven zunächst einmal ablehnend ist [6], sind die Rückmeldungen auf das Blindenleitsystem grundsätzlich positiv. Das System unterstützt Sehgeschädigte und bietet durch besonders gekennzeichnete Überquerungsstellen, die im Abstand von ca. 50 m und an Einmündungen angeordnet sind, eine Grundorientierung. Allerdings bestehen seitens blinder und sehbehinderter Menschen Ängste bei der Überquerung der Fahrbahn aufgrund der hohen zulässigen Geschwindigkeiten und des hohen Verkehrsaufkommens und es wird mangelnde Rücksichtnahme beim Parken bemängelt. Diese führt immer wieder dazu, dass Kurzparker ihre Fahrzeuge unmittelbar neben dem Leitstreifen abstellen. In der Konsequenz bemüht sich der DBSV um eine Aufnahme von Leitsystemen als Verkehrszeichen in der StVO, um ein Abstellen grundsätzlich ahnden zu können.

Durch die hohe Verkehrsbelastung dominiert der Kraftfahrzeugverkehr. Radfahrer und Fußgänger bewegen sich überwiegend in den Seitenräumen, die teilweise durch parkende Fahrzeuge eingeschränkt werden.

Fazit: Shared Space in Bohmte

Aus Sicht der Autoren dieses Beitrages wird das Ziel der gegenseitigen Rücksichtnahme in Bohmte momentan nur bedingt erfüllt. Positiv anzumerken ist, dass das Geschwindigkeitsniveau zumindest in Zeiten hohen Verkehrsaufkommens überwiegend niedrig ist. Das Fußgängeraufkommen ist insgesamt als gering zu bezeichnen, so dass der Kfz-Verkehr im Straßenbild dominiert und es somit zu einer „klassischen“ Straßenraumaufteilung kommt, bei der sich Fußgänger und Radfahrer einen schmalen Bereich neben dem Leitstreifen teilen und die Straße eher selten – und wenn, dann zügig und auf direktem Weg – überqueren. Von einer „Gastrolle“ des Kfz-Verkehrs kann in Bohmte keine Rede sein. Positiv zu sehen ist der Versuch, blinde und sehbehinderte Menschen durch den Einbau eines Leitsystems nicht von der Nutzung des Straßenraums auszugrenzen. Allerdings besteht sicherlich noch Verbesserungspotenzial. Daher sollten die Erfahrungen aus Bohmte in folgenden Projekten zu einer Fortentwicklung genutzt werden.

Anwendungsbereiche von Shared Space Prinzipien

Die Eignung potenzieller Straßenräume für eine Umgestaltung nach Shared Space Prinzipien ist auch unter Beachtung der Erfahrungen in Bohmte sowie weiterer in den oben aufgeführten Veröffentlichungen beschriebenen Beispiele aus Haren und Drachten in den Niederlanden, Kevelaer, Brühl und Duisburg in Deutschland sowie Bern, Biel und Burgdorf in der Schweiz an die zur Verwendung kommenden Gestaltungsprinzipien gekoppelt. So ist nach Ansicht der Autoren generell eine Eignung nur dann gegeben, wenn folgende Ziele bei Shared Space Projekten beachtet werden, die dann im Einzelfall in Gestaltungsvarianten umzusetzen sind:

  • 1. Planungsphilosophie

Shared Space ist kein Planungsinstrument, sondern eine Haltung mit dem Ziel der gegenseitigen Rücksichtnahme. Anzustreben ist eine Gestaltung, bei der sich Autofahrer als Gast fühlen und geringe Geschwindigkeiten wählen.

  • 2. Aufenthaltsqualität

Shared Space hat das Ziel, die Aufenthaltsqualität und Funktionalität von städtischen Straßen zu stärken. Gefragt sind neue Gestaltungen, die einzelne Abschnitte und Plätze durch eine wohltuende Atmosphäre vom übrigen Straßennetz spürbar abheben.

  • 3. Partizipation

Shared Space wird mit den Bürgern vor Ort konzipiert. Die Partizipation geht über die sonst üblichen Formen der Bürgerinformation hinaus und beteiligt die Bürger mit aufwändigen Instrumenten an der Planung.

  • 4. Raum für alle

Shared Space berücksichtigt die Ansprüche aller Personen- und Nutzergruppen. Die entsprechenden Abschnitte werden barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen, wie Kinder, ältere Menschen oder auch öffentlicher Verkehr, Service, Lieferverkehr und Feuerwehr gestaltet.

  • 5. Höhengleiche Ausbildung

Shared Space arbeitet abschnittsweise mit höhengleichen Ausbildungen, wobei gliedernde Elemente oder Flachborde eingesetzt werden können. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum und/oder eine Kanalisierung des fließenden Verkehrs kann notwendig sein.

  • 6. Klare Regelung

Shared Space kommt ohne Lichtsignalanlagen und weitgehend ohne Beschilderung und Markierung aus. Shared Space Bereiche sollten bei geringen Verkehrsbelastungen als verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen werden, um dem Fußgängerverkehr auch rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln. Alternativ kann bei vorrangiger Verbindungsfunktion auch die Ausweisung als verkehrsberuhigter Geschäftsbereich („Tempo-20/10-Zone“) in Verbindung mit einem eingeschränkten Halteverbot für eine Zone in Frage kommen, solange die empfehlenswerte Einführung eines neuen Verkehrszeichens entsprechend der schweizerischen Begegnungszone [7,8] noch aussteht.

Die Autoren dieses Beitrages raten davon ab, Shared Space Bereiche nicht auszuschildern. Nur mit einer verkehrsrechtlich eindeutigen Anordnung kann auch rechtlich gegen ein Fehlverhalten vorgegangen werden.

  • 7. Leistungsfähigkeit

Shared Space setzt eine leistungsfähige und sichere Verkehrsabwicklung voraus. Leistungsfähigkeit und Sicherheit werden im Rahmen der Planung mit entsprechenden Verfahren nachgewiesen.

  • 8. Sichtbeziehung

Shared Space setzt hervorragende Sichtbeziehungen voraus, um gegenseitige Rücksichtnahme und Kommunikation der Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten. Der ruhende Verkehr ist daher aus ausgewählten Abschnitten weitgehend zu verlagern und die Parkraumnachfrage ist durch Angebote im nahen Umfeld zu befriedigen.

  • 9. Erfolgskontrolle

Shared Space wird Erfolgskontrollen unterzogen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Shared Space Projekte in Abschnitten mit höheren Belastungen (größer rd. 4.000 Kfz/Tag) haben Pilotcharakter und sind entsprechend zu behandeln und zu begleiten.

  • 10. Verkehrssicherheit

Bei allen Planungen muss die Verkehrssicherheit eine übergeordnete Rolle einnehmen. Dazu sind zunächst detaillierte Analysen des Unfallgeschehens schon vor der Umgestaltung erforderlich, um mögliche Gefahrenpunkte bereits bei der Planung berücksichtigen zu können. Die Planung selbst ist in allen Planungsphasen durch ausgebildete Sicherheitsauditoren zu auditieren. Nach der Verkehrsfreigabe ist eine ständige Beobachtung und Analyse, möglichst durch einen externen neutralen Gutachter, sicher zu stellen, um schnell auf mögliche Sicherheitsdefizite reagieren zu können.

Werden diese zehn Punkte konsequent beachtet, kann Shared Space für bestimmte Straßenabschnitte und Plätze dazu beitragen, dass eine gegenseitige Rücksichtnahme im Verkehr gefördert wird.

Einsatzbereiche für Shared Space

Geeignet sind in erster Linie sensible Abschnitte von Hauptgeschäftsstraßen, örtliche Geschäftsstraßen, dörfliche Hauptstraßen und Quartiersstraßen. Der Fußgänger- und/oder Radverkehr sollte das Straßenbild bestimmen bzw. zumindest in einer Größenordnung zu verzeichnen sein, die den Wunsch nach einem „Gaststatus“ des Kfz-Verkehrs rechtfertigt. Die Randnutzungen sollten in diesen Bereichen einen hohen Überquerungsbedarf bedingen, so dass Fußgänger und Radfahrer den gesamten Straßenraum potenziell in Anspruch nehmen.

Konkrete Einsatzgrenzen für die Anwendung des Shared Space-Prinzips liegen noch nicht vor. In [1] wird empfohlen, die Belastungsgrenze von 8.000 Kfz/Tag nicht zu überschreiten, um eine Dominanz des Kfz-Verkehrs zu vermeiden. Bei einem niedrigen Geschwindigkeitsniveau kann die Belastung nach [1] bis zu 14.000 Kfz/ Tag in Streckenabschnitten betragen. Möglicherweise sind noch höhere Belastungen mit den Shared Space Prinzipien vereinbar – in Hamburg werden nach [8] detaillierte Kriterien zur Eignung von Straßenräumen angegeben und 20.000 Kfz/24h als obere Belastungsgrenze für Gemeinschaftsstraßen aufgeführt. Die Belastungsgrenzen hängen sicherlich auch von den Gestaltungselementen ab – so sprechen höhere Belastungen beispielsweise dafür, einen Mittelstreifen zu verwenden, um die linienhafte Überquerbarkeit zu ermöglichen.

Anzumerken ist, dass eine Eignung nicht unmittelbar mit einem Bedarf an einer Umgestaltung gleichgesetzt werden darf. Da z. T. erhebliche Finanzierungsmittel in die Hand genommen werden, sollten detaillierte Mängelanalysen zunächst den Bedarf an einer Umgestaltung ableiten.

Empfehlungen für Shared Space in Deutschland

Shared Space Bereiche in Deutschland sollten darüber hinaus

  • auf eine Länge von 300 m bis maximal 800 m begrenzt sein, um ein möglichst geringes Geschwindigkeitsniveau zu erreichen und um eine Akzeptanz des weitgehenden Parkverbots auch in Geschäftsbereichen zu erzielen,
  • weitgehend höhengleich gestaltet sein, wobei einzelne Elemente wie Begrünung oder Einbauten den Straßenraum gliedern können,
  • geeignete Elemente als Ersatz für fehlende Bordkanten bereitstellen, damit sich blinde und stark sehbehinderte Menschen in diesen Bereichen selbstständig bewegen können,
  • frei von parkenden Fahrzeugen sein, wobei ausreichende Angebote zum Parken im Umfeld zu schaffen sind,
  • leistungsfähig gestaltet sein und somit je nach Verkehrsstärke in Knotenpunkten „Rechts-vor-Links“ Regelungen, Mini-Kreisverkehre oder kleine Kreisverkehre aufweisen,
  • uneingeschränkte Sichtbeziehungen zwischen allen Verkehrsteilnehmer gewährleisten.

Neue Entwicklungen in Deutschland

SimplyCity, die Shared Space Prinzipien sowie auch das darauf aufbauende Konzept der Gemeinschaftsstraßen werden weiterhin zu beobachten sein. Trotz der schon recht detaillierten Erkenntnisse bleiben viele Fragen offen, die noch zu beantworten sind. Gleichwohl zeichnen sich neue Entwicklungen ab, die die Anwendung und Weiterentwicklung des Prinzips in deutschen Städten sowie im benachbarten Ausland betreffen:

  • In der Hansestadt Hamburg ist die Umsetzung von Gemeinschaftsstraßen mittlerweile soweit vorangeschritten, dass die sieben Bezirksämter damit begonnen haben, geeignete Straßenräume zu identifizieren. Der Umsetzungsprozess soll nach den derzeitigen Vorstellungen Anfang 2010 beginnen.
  • In der Stadt Konstanz soll der Bahnhofplatz auch aufgrund der Nähe zur Schweiz zu einer „Begegnungszone“ umgestaltet werden. Ziel ist es vor allem, den Fußgängerverkehr im unmittelbaren Bahnhofsbereich aufzuwerten und die Umstiegsbeziehungen zum Busverkehr zu verbessern.
  • In Gleinstätten (Steiermark, Österreich) wird nach Bohmte in einem weiteren Shared Space ein Leitsystem für blinde und stark sehbehinderte Menschen eingebaut. Dieses dient nicht nur als Leitsystem durch Shared Space, sondern verknüpft wichtige Gebäudeeingänge. Eine städtebaulich verträgliche Integration wird durch eine geänderte Farbgebung versucht. Lediglich jede fünfte Platte des Leitsystems wird optisch kontrastierend ausgeführt. Zudem wird das System infolge der Farbwahl durch die Kraftfahrer nicht als Fahrbahnbegrenzung eingestuft.

In Kürze

Neue Veröffentlichungen enthalten aktuelle Erkenntnisse, Einschätzungen und Empfehlungen zu Shared Space Prinzipien. Empfohlen wird, den Anwendungsbereich auf Straßenabschnitte von einer Länge von 300 bis 800 m zu begrenzen, in denen der Fußgänger- und/ oder Radverkehr das Straßenbild bestimmt und diese als verkehrsberuhigte Bereiche bzw. künftig als Begegnungszonen auszuweisen.

Quellennachweise:

  1. Gerlach, J.; Boenke, D.; Leven, J.; Methorst, R.: Sinn und Unsinn von Shared Space – Zur Versachlichung einer populären Gestaltungsphilosophie, in: Straßenverkehrstechnik, Hefte 2 und 3/2008
  2. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., GDV: Shared Space - eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte?, Beispiele und Empfehlungen für die Praxis, Berlin, Oktober 2009, http://www.udv.de/uploads/tx_udvpublications/Broschuere_Bsp_Shared_Space.pdf
  3. Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V., ADAC: Shared Space – Mehr Sicherheit durch weniger Regeln im Verkehr?, München 2009, zur Zeit der Drucklegung noch unveröffentlicht
  4. Bundesvereinigung der Straßenbau- und Verkehrsingenieure, BSVI: Shared Space, Gemeinschaftsstraßen, Simply City, verkehrsberuhigte Bereiche oder Begegnungszonen - Was brauchen wir in unseren Städten oder Gemeinden?, BSVI – Aktuell, zur Zeit der Drucklegung noch unveröffentlicht
  5. Heinrich-Böll-Stiftung u. a.: Bechtler, C.; Hänel, A.; Laube, M.; Pohl, W.; Schmidt, F.(Hrsg.): Buchprojekt Shared Space (Titel stand zur Zeit der Drucklegung noch nicht fest), zur Zeit der Drucklegung noch unveröffentlicht
  6. Gerlach, J.; Falk, M.: Gestaltung nach dem Shared Space Prinzip in Deutschland – Analyse von drei Beispielen, in: Zeitschrift für Verkehrssicherheit, Heft 4/2008
  7. Schwab, Arndt: http://www.strassen-fuer-alle.de/vergleich/41-verkehrsberuhigungstypen/vergleich/114-mischflaechen-shared-space-begegnungszonen.html , in: mobilogisch!, Heft 2/2008
  8. Tabelle "Vergleich Begegnungszonen, Shared Space, Verkehrsberuhigter Bereich bzw. Geschäftsbereich "
  9. IGS Ingenieurgesellschaft Stolz mbH; Gerlach, J.; Kesting, T.; Kettler, D.; Leven, J.; Boenke, D.: Voraussetzung für die Umsetzung von Gemeinschaftsstraßen in Weiterentwicklung des Shared Space-Prinzips unter Beachtung der großstädtischen Rahmenbedingungen der Freien und Hansestadt Hamburg, Endbericht, Neuss/Wuppertal 2009, www.hamburg.de/start-gemeinschaftsstrassen/ 1454974/gemeinschaftsstrassen-start.html

 

Dieser Artikel von Univ.-Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gerlach und Dipl.-Ing Jörg Ortlepp ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2010, erschienen. 

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