Interview mit Sabine Lutz vom Keuninginstituut in Groningen (NL), Kollegin von Hans Monderman.

? Frau Lutz, Sie wollen hochwertige Straßenräume entwickeln, in denen keine Verkehrsregeln vorgegeben werden. In Haren und Drachten befinden sich die bekanntesten Vorzeigeprojekte für „Shared Space“. Liegen diese Beispiele bewusst in Tempo-30-Zonen?

! Tempo 30 ist absolut kein Bestandteil des Shared-Space-Konzeptes. Ein Tempolimit bedeutet, dass man sich nicht auf den räumlichen und sozialen Kontext richtet, sondern an das Verkehrsverhalten der Autofahrer appelliert. 30 km / h kann ggf. zu schnell sein, und unter anderen Umständen könnte man vielleicht schnel-ler fahren, ohne dass es jemanden stört oder in Gefahr bringt. Im Prinzip sollte Shared Space völlig ohne Verkehrsinstrumentarium auskommen. Es ist aber nur allzu verständlich, dass das ein zu großer Schritt auf einmal wäre. Da spielen schließlich viele Faktoren eine Rolle, vom Vertrauen der Einwohner bis hin zu rechtlichen Fragen, und es ist klar, dass Behörden sich da gerne absichern möchten.

? Was ist mit den Zebrastreifen in Haren und Drachten? Wann wurden sie eingefügt?

! Sie sind schon im gemeinschaftlichen Planungsprozess festgelegt worden. An einer Stelle mit Zebrastreifen in Drachten wurden Hinweisschilder nachgerüstet - Bürgerwunsch.

? In Drachten gibt es am „Shared-Space“-Kreis-verkehr „Laweiplein“ auch vorfahrtsregelnde Fahrbahnmarkierungen und Verkehrszeichen, die die Fahrtrichtung vorgeben. Wie kam es dazu?

! Das sind nachträgliche Kompromisse. Radikales Umdenken ist schwer, für jeden von uns. Wenn man mit dem Gedanken aufgewachsen ist, dass Menschen Schilder, Ampeln, Zebrastreifen usw. brauchen, um sich anständig zu benehmen, und wenn man, wie wir alle, von Kind auf Verkehrsunterricht erhalten hat und also weiß, wie man sich „sicher“ im Verkehr verhält, und wenn man täglich eingetrichtert bekommt, wie gefährlich es auf unseren Straßen ist, dann kann man sich vorstellen, dass ein anderes Erfahren unserer Straßen nicht von heute auf morgen realisiert werden kann. Das gilt sowohl für diejenigen, die die Straße benutzen, als auch für jene, die formal dafür „verant-wortlich“ sind. Was wir mit Shared Space versuchen, ist diese Unterteilungen und Trennungen zwischen Verkehr, Wohnen, Wirtschaft, Städtebau usw. zu überwinden. Dazu braucht es eine andere Politik und ein anderes Denken, und vor allem einen langen Atem.

? Was ist für Sie die Hauptsache beim „Shared-Space“-Ansatz ?

! Ich glaube, das Wichtigste ist der gemeinsame Entscheidungs- und vor allem Lernprozess der Akteure vor Ort. Und das Lernen sollte weitergehen, auch wenn die Straße einmal fertig ist. Wie hilfreich die enge Einbindung der Betroffenen ist, zeigt etwa die deutsche Gemeinde Bohmte, die am EU-Projekt „Shared Space“ teilnimmt. Dort hat der Prozess der Bürgerbeteiligung zu wunderbaren Ergebnissen geführt.

Zum Beispiel haben alle Betroffenen zugestimmt, auf ein Baurechtsverfahren für die Straßenumplanung zu verzichten. Nur so kann die Gemeinde das Vorhaben in der Projektlaufzeit bauen und dafür Zuschüsse erhalten. Außerdem haben alle erklärt, dass sie keine Lärm-schutzmaßnahmen fordern, obwohl die Fahrbahn mit Klinker ausgeführt und dadurch lauter wird. Die Leute stehen gemeinsam zum Projekt. Da wächst Vertrauen. Auch in Haren hat der Beteiligungsprozess große Fortschritte gebracht, gerade wenn es eigentlich unvereinbare Positionen gab.

? Der Straßenumbau in Haren ist ja gelungen. Wie kam das Ganze zu Stande?

! Hier ging die Initiative von den Geschäftsleuten aus, die sich ein freundliches Umfeld wünschten. Die Ortsdurchfahrt war eine Barriere, es gab getrennte Radwege, aber kein Grün, keine Aufenthaltsqualität, schmale Bürgersteige, ziemlich viele Unfälle. Hans Monder-man fand im örtlichen Beigeordneten einen Partner, der seine Ideen mitvertrat. Die beiden wollten eine radikale Lösung: Alles sollte zur Mischfläche werden.

Dieses Ziel wurde jedoch von einer Ratspartei und den Fahrrad-Verbänden abgelehnt. Die Radfahrer bestanden auf Beibehaltung der Radwege. Als Kompromiss wurde ein einjähriger Feldversuch durchgeführt. So wurden die für den Fußgänger reservierten Flächen auf beiden Straßenseiten mit jeweils einem Radweg versehen, was sich nicht bewährte. Erst durch den gemeinsamen Planungsprozess kam es zu einer Einigung. Heute gibt es am Straßenrand reine Gehwege, Radler benutzen die Fahrbahn gemeinsam mit den Autos. Die Verkehrsschilder „Gehweg“ stammen noch aus der Einführungszeit der jetzigen Betriebsform.

? Es gibt in der 800 Meter langen Geschäftsstraße keinen Pkw-Parkstand. Wie klappt das?

! Im Umfeld bestehen genug Parkmöglichkeiten. Manchmal wird trotz der Absperrungselemente im Seitenraum geparkt. Da das nur selten vorkommt, wird das auch nicht geahndet.

? Wie stehen die Bürgerschaft zu den Projekten?

! Es gibt zwei Gruppen: Die einen sagen: Das ist unsere Straße! Sie gehen selbstbewusst über die Fahrbahn. Wer diese Einstellung hat, fühlt sich sicher. Aber es gibt auch die, die damit nicht gut zurecht kommen. Wer sich unsicher fühlt, benimmt sich auch so. Hier vollzieht sich aber ein Gewöhnungsprozess. Je mehr Leute gehen, desto weniger fahren mit dem Auto. Wenn die Straßen nicht zum Gehen einladen, ist es umgekehrt, ein Teufelskreis beginnt. In Haren hat sich der Fußverkehr die Straße erobert, zumindest an den Plätzen. Wo früher breite Fahrbahnen waren, sind inzwischen Cafés entstanden, wo sich Menschen gerne aufhalten.

 

Dieser Artikel ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2008, erschienen. 

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