Die Erwartungen der interessierten Öffentlichkeit an „Shared Space“ sind groß. Oft wird fälschlicherweise angenommen, der Begriffe stehe speziell für unbeschilderte Mischflächen. Dabei gibt es vielerlei Umsetzungsvarianten. Manche Praxisansätze sind fußverkehrsfreundlich, andere hingegen sehen nur so aus.

Der Fußverkehr und seine Ansprüche

Aus sozialen, ökonomischen, ökologischen und städtebaulichen Gründen ist das Zu-Fuß-Gehen uneingeschränkt und vorrangig förderungswürdig. Wo Straßenräume, Quartiere und die örtliche Nahversorgung belebt werden sollen, müssen Fußgänger/innen gute Bedingungen vorfinden: eine ansprechende Gestaltung, Störungsfreiheit beim Gehen und Verweilen sowie Freizügigkeit und Sicherheit beim Wechsel der Straßenseite. Vor allem Hauptverkehrsstraßen in Stadt(teil-) und Dorfzentren erfüllen diese Anforderungen häufig noch nicht. Während fast überall in den 1980er bis 90er Jahren Wohnstraßen verkehrsberuhigt wurden, stehen die entsprechenden Aufgaben – und Auseinandersetzungen – bei angebauten Hauptverkehrsstraßen noch bevor.

Höchste Priorität aus Fußgängersicht haben – neben Straßenabschnitten mit nur sehr schmalen Gehwegen – Geschäftsstraßen und andere Situationen, in denen ein sehr hohes ungebündeltes Querungsbedürfnis besteht (sog. linearer Querungsbedarf). Fußgänger/innen sind sehr umwegempfindlich. Trotzdem werden sie oft zur Benutzung von weit entfernten Querungsanlagen gezwungen, nur um Eingriffe in die Qualität des Kfz-Verkehrs zu vermeiden. Dabei werden die Beeinträchtigungen für den motorisierten Verkehr, die von einer fußgängerfreundlichen Lösung ausgehen würden, meistens überschätzt. Durch das EU-Projekt „Shared Space“ haben sich Chancen aufgetan, die oft erfolglosen Bemühungen um Verkehrsberuhigung von Hauptverkehrsstraßen, die in den letzten drei Jahrzehnten fast durchweg abgeblockt wurden, weiter und zu positiven Ergebnissen zu führen.

Shared Space und seine Anwendungsspielräume

„Shared Space“ bedeutet übersetzt „geteilter Raum“, und zwar im Sinne von gemeinsamer Nutzung. Der Begriff bezeichnet kein definiertes verkehrsplanerisches Modell, etwa eine Mischfläche oder eine unbeschilderte Straße (wenngleich beide Aspekte den Idealtypus bilden) [-0-]. Vielmehr handelt es sich um eine Philosophie bzw. einen Prozess mit dem Ziel, die Qualität des öffentlichen Raumes und sozialere Verhaltensweisen zu fördern. Eine besonders intensive, früh einsetzende Partizipation ist Kennzeichen der offiziellen Projekte. Jedoch kommt den beiden prominenten Theoriebausteinen „unsicher ist sicher“ (Risikokompensation, G.J.S. Wilde, 1968 / 1974) sowie „Gleichberechtigte verhalten sich sozialer“ in der Projektpraxis eine geringere Bedeutung zu, als meist vermutet wird. Nachfolgend werden dem theoretischen Idealtypus alternative Ausführungsvarianten, die aktuell mehr oder weniger passend als „Shared Spaces“ diskutiert werden, gegenübergestellt.

Vorab zu den rechtlichen und technischen Normen: Das Straßenverkehrsrecht hat keine Bedenken bezüglich radikaler Varianten ohne Verkehrszeichen. Schließlich fordert die Straßenverkehrsordnung (StVO) eine möglichst sparsame Beschilderung (§ 45 Abs. 9). Dagegen wird die Anordnung echter Mischverkehrsflächen sowie fußgängerfreundlicher Höchstgeschwindigkeiten streng reglementiert, z.T. 2009 nochmals verschärft [-1-]. Die ingenieurtechnischen Richtlinien zur Anlage von Stadtstraßen (RASt 2006) gewähren planerischen Spielraum, sämtliche Ausführungsvarianten anzuwenden. Verbindliche Vorgaben zu Höchst-Kfz-Mengen gibt es nicht, auch nicht für Mischverkehrsflächen: Die „Empfohlene[n] Lösungen für Typische Entwurfssituationen“ der RASt 06 orientieren sich am (unverbindlichen) „Entwurfsgrundsatz“, das Mischungsprinzip nur bei Kfz-Mengen bis ca. 400 Fahrzeugen pro Stunde anzuwenden. Die Herausgeberin, die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), erstellt derzeit Hinweise mit Einsatzempfehlungen für Shared Spaces, u.a. bezüglich Höchst-Kfz- und Mindest-Fußgängermengen. Der Haupttitel wird sich nicht auf „Shared Space“ beziehen, weil der Terminus nur noch für Projekte verwendet werden darf, die zusammen mit dem gleichnamigen Institut in Drachten (NL) bzw. dem Keuning Instituut in Groningen (NL) entwickelt werden bzw. wurden oder von dort Anerkennung erfahren.

Idealtypus ungeregelte Mischfläche ohne Bevorrechtigung einer Verkehrsart

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Regellosigkeit und Gleichberechtigung sind derzeit verkehrsrechtlich weder vorgesehen noch herzustellen. Um sie zu verwirklichen, müsste ein neues Verkehrszeichen in die StVO und die Wiener Konvention eingeführt werden, das für den beschilderten Raum eine Außerkraftsetzung aller StVO-Regelungen bewirkt. Das ist aber auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. (Entwurf des Autors)

Dieser von der Allgemeinheit mit „Shared Space“ assoziierten Anwendungsfall existiert noch nicht. Anders als häufig angenommen, führt die bloße Nichtbeschilderung keineswegs zu Regellosigkeit, Gleichberechtigung zwischen Fuß- und Fahrzeugverkehr [-2-] sowie zur Schaffung einer Mischverkehrsfläche. Letzteres kann nur mittels bestimmter Beschilderung erreicht werden (v.a. Verkehrsberuhigter Bereich oder Fußgängerzone mit unbegrenzter Fahrzeugfreigabe). Wiewohl Regellosigkeit und Gleichberechtigung Schlagwörter vieler Medienberichte, Diskussionen und Projektbeschreibungen sind, gibt es kein einziges „Shared Space“-Vorhaben, bei dem sie ernsthaft angestrebt oder gar erfüllt worden wären.

Varianten mit Schein-Mischfläche und grundsätzlichem Fahrzeugvorrang

  • Unbeschilderte Straßen ohne Markierungen und Ampeln – „Naked Streets“

 

Straßen ohne jegliches Verkehrszeichen (und somit auch ohne straßenverkehrsrechtliche Markierungen) heißen im Ausland „Naked Streets“ (Nackte Straßen). In Deutschland wird diese sehr seltene Variante häufig mit „Shared Space“ gleichgesetzt. Es gelten die Standardverkehrsregeln der StVO, auch bezüglich der Rechte und Pflichten des Fußverkehrs. Der betreffende § 25 StVO wird in den meisten Fachbeiträgen zu Shared Space ausgeklammert, obwohl er gravierende Vorschriften enthält (siehe Kasten). Ohne Beschilderung als Verkehrsberuhigter oder Fußgängerbereich gelten die allgemein befahrbaren Teilflächen der Straße rechtlich als Fahrbahn, beim Fehlen von Seitenstreifen oder Gehwegen grundsätzlich sogar die ganze Straße. Fahrbahnen dürfen nur sehr eingeschränkt begangen werden. „Nackte“ Straßen und Plätze mit niveaugleichem Ausbau können zwar wie Mischverkehrsflächen aussehen, sind es aber verkehrsrechtlich nicht. Damit ergibt sich ein riskanter Widerspruch zwischen „Bau“ (Erscheinungsbild) und „Betrieb“ (örtlicher Verkehrsregelung), was vor allem bei Unfällen zur Schlechterstellung involvierter Fußgänger/innen führt.

Rechte und Pflichten des Fußverkehrs bei normalen und Nackten Straßen (§ 25 StVO)
Wo kein Gehweg oder (abmarkierter) Seitenstreifen sowie kein Verkehrsberuhigter Bereich und keine Fußgängerzone vorhanden sind, darf das Längsgehen nur am Straßenrand stattfinden; Fußgänger/innen müssen bei Dunkelheit, Nebel oder wenn es „die Verkehrslage“ erfordert einzeln hintereinander gehen. Ein Verweilen im zentralen Bereich der Fahrbahn ist nur mit Fahrzeug erlaubt. Zu Fuß ist nicht einmal diagonales Queren gestattet: Das Überschreiten der Fahrbahn ist nur „zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung“ zulässig, und zwar ggf. ausschließlich an Knotenpunkten oder – soweit vorhanden – an LSA-Furten oder Zebrastreifen („wenn die Verkehrslage es erfordert“). Fußgänger/innen sind grundsätzlich wartepflichtig (Fahrzeugvorrang). Genau wie in „normalen“ Straßen haben sie nur gegenüber Fahrzeugen Vorrang, die entweder im Knotenpunkt nach einem Abbiegevorgang kreuzen oder den Gehweg überfahren (vgl. §§ 9 u. 10 StVO).

Das in Hinsicht Nichtbeschilderung konsequenteste Projekt Europas wurde in den Jahren 2004 bis 2008 in Bohmte (Niedersachsen) realisiert. Die dortige L 81 ist die erste und bislang einzige „nackte“ Hauptverkehrsstraße Deutschlands. Da nichts anders beschildert ist, gilt die problematische Regelhöchstgeschwindigkeit 50 km/h (Zeichen 310 „Ortstafel“), die für Fußgänger/innen erheblich mehr Verletzungs- und Sterblichkeitsrisiko bei Unfällen aufweist als Geschwindigkeiten bis 30 km/h. Situationsbezogene Verlangsamungen und eine Bremsbereitschaft zum Schutz von „Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen“ sind zwar generell durch § 3 Abs. 2a StVO vorgeschrieben. Allerdings ist diese variable Verkehrsregel in der Praxis nicht sonderlich wirksam (kaum bekannt, oft missachtet, nicht überwach- und ahndbar). Im Allgemeinen wird eine von „normalen“ Straßen abweichende Gestaltung benötigt, um den Fahrverkehr an die gebotene Verlangsamung bzw. Aufmerksamkeit zu erinnern. Auch zur Ordnung der Kfz-Abstellung werden meist bauliche Maßnahmen nötig sein, weil sonst Beeinträchtigungen des Fußverkehrs, der Verkehrssicherheit (Sichtbeziehungen) und ggf. des Ortsbilds zu erwarten sind. Der Ausnahmefall Bohmte kommt ohne Poller etc. aus: Wegen umfangreicher Abstellmöglichkeiten auf den anliegenden Grundstücken, geringer Nutzungsdichte und -nachfrage besteht dort praktisch kein Parkdruck. Diese günstige Ausgangslage, soziale Kontrolle und persönliche Appelle des Dorfbürgermeisters bewirken, dass der dortige „Shared Space“ kaum beparkt wird (obwohl es an vielen Stellen zulässig wäre – und der Blinden-/Sehbehindertenleitstreifen immer wieder als Parkstreifenmarkierung gedeutet wird). Auf Orte größerer Zentralität lassen sich die Bohmter Lösungen nicht übertragen.

 

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Nackte Landesstraße: L 81 in Bohmte (Niedersachsen). Zumindest die Verkehrsberuhigung einer klassifizierten und mit 12.500 Kfz/Tag befahrenen Straße sowie das kommunale Engagement sind vorbildlich. (Foto: Arndt Schwab)

Für selbstbewusste, gesunde Personen mittleren Alters bietet die Nichtbeschilderung bzw. -beampelung eine Verkürzung der Wartezeiten beim Queren der Fahrbahn. Jedoch für sonstige Personengruppen, Kinder, Senioren und Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung ergeben sich oft längere Wartezeiten und Unsicherheitsgefühle. Nichtbeschilderung in Verbindung mit niveaugleichem Ausbau kann überdies zu verstärkten Konflikten zwischen Fuß- und Radverkehr am Straßenrand führen. In Bohmte etwa fahren fast alle Radfahrer/innen, vielleicht aus Angst vor den Kfz, im begangenen Seitenbereich. Das ist rechtmäßig (Rechtsfahrgebot, § 2 StVO), aber nicht fußgängergerecht. Das praktische Geschehen in diesen „geteilten Räumen“ entspricht dem bei Gemeinsamen Fuß- und Radwegen (Zeichen 240), deren innerörtlicher Einsatz gemäß Stand der Technik möglichst vermieden werden sollte (vgl. RASt 06, ERA 1995, EFA 2001). Ungestörte Geh- und Aufenthaltsflächen gibt es beim Bohmter Modell nicht. Immerhin wurde durch Einsatz von Straßenlampen und Entwässerungsrinnen vorgebeugt, dass die Kfz ebenfalls direkt vor den Hauseingängen fahren. [-3-]

Die vermeintlich „nackten“ Straßen in Drachten und Haren (NL) liegen übrigens z.T. in Parkverbotszonen; es gibt genug Parkangebote außerhalb der betreffenden Straßenräume und höhere Bußgelder als hierzulande fürs Falschparken. Eine weitere Besonderheit der Niederlande, die Nackte Straßen begünstigt: Die haftungsrechtliche Verschuldensvermutung, die Kfz-Fahrer/innen automatisch 50 % (bei Betroffenheit von über 14-Jährigen) bis 100 % (bei Betroffenheit von Kindern) der Schuld im Falle eines Unfalls mit einer/einem nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer/in zuweist

  • Tempo 30

Höchstgeschwindigkeitsbegrenzungen auf 30 km/h oder weniger zählen zu den kostengünstigsten und am schnellsten wirkenden Maßnahmen, um die Verkehrssicherheit und die Querungsbedingungen zu verbessern. Trotz vieler Vorteile (u.a. Verkehrssicherheit, Flächengewinn, Fahrradförderung, Schallschutz, Kosteneinsparung) wird die Anordnung von Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen weiterhin durch die restriktive StVO / VwV-StVO erschwert und häufig vereitelt. [-1-] Erfolgsbedingungen sind Begleitmaßnahmen wie Öffentlichkeitsarbeit, Überwachung und Ahndung sowie die Entfernung oder Anpassung etwaiger LSA (Verkehrsabhängigkeit oder Progressiongeschwindigkeitsanpassung, weitmöglichster Verzicht auf Fahrzeug-Grün-Signale). Beim Zusammentreffen von höheren Kfz-Mengen und linearem Querungsbedarf und/oder fehlenden bzw. zu schmalen Gehwegen genügen reine Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht. Die letzten Monderman-Projekte Drachten und Haren in den Niederlanden kombinieren daher jeweils eine Tempo-30-Zonenregelung mit Zebrastreifen (punktueller Fußgängervortritt) [-6-]; zudem gibt es z.T. weitere vorrangregelnde Markierungen („Haifischzähne“) und Zonen-Parkregelungen. Der zunächst nicht vorgesehene Verkehrszeicheneinsatz ist Folge von Bürgerbeteiligung bzw. behördlicher Vorsicht (Haftungsbegrenzung). Er wird von den niederländischen Shared-Space-Expert/innen unverkrampft als Ausdruck des lebendigen, inhaltlich und zeitlich offenen Prozesses akzeptiert.

Ein fußgängerfreundliches Klima ergibt sich insbesondere bei Kombination von Tempo 30 mit städtebaulich integrierten Mittelstreifen: Die Kraftfahrer/innen werden aufmerksamer und verzichten teilweise auf ihren Vorrang gegenüber Querungswilligen und Querenden. Deshalb anerkennen die beiden o.g. Institute weiche Mittelstreifen-Projekte wie in Ulm (Neue Straße u.a.) oder Köniz (CH; Weiterentwicklung der Frankfurter Straße in Hennef) als „Shared Spaces“, wenngleich sie ohne deren Mitwirkung entstanden sind. Bei günstiger Gestaltung und eher niedrigen Kfz-Mengen wagt es der Fußverkehr bei Tempo 30 sogar, Fahrbahnen nicht nur selbstbewusst zu queren, sondern auch zu begehen. Mancherorts wird das von den Planern bzw. Straßenverkehrsbehörden gewollt oder wenigstens akzeptiert. Ein solches Verkehrsgeschehen kann sicher und städtebaulich gewünscht sein. Nichtsdestotrotz ist zu bedenken, dass der spezifische rechtliche Rahmen (§ 25 StVO, s.o.) das Verhalten der Fußgänger/innen „illegalisiert“, was ihnen bei Unfällen den Schwarzen Peter zuweist.

  • Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich (Tempo 5- bis -30-Zone)

Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche (Zeichen 274.1/274.2) werden zumeist als Tempo-10- oder -20-Zone beschildert. Im Gegensatz zu Strecken-Geschwindigkeitsbegrenzungen kann die Zonenbeschilderung ohne eine überdurchschnittliche Gefahrenlage angeordnet werden (§ 45 Abs. 9 StVO; gilt auch für Tempo 30). Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche können städtebaulich oder politisch z.B. über einen Bebauungsplan, der eine Verkehrsfläche dieser Zweckbestimmung festsetzt, „bestellt“ bzw. vorbereitet werden [-7-]. Örtliche Anordnungsvoraussetzungen sind v.a.: Zentraler „städtischer“ Bereich mit hohem Fußgängeraufkommen, überwiegender Aufenthaltsfunktion, geringem Durchgangsverkehr und ohne Klassifizierung als B-, L- (bzw. S-) und K-Straße, sowie Fehlen bzw. Entfernung etwaiger Lichtsignalanlagen, gelb-weißer Vorfahrtsstraßen-Schilder (Zeichen 306) und benutzungspflichtiger Radwege (§ 45 StVO und VwV zu § 45 bzw. Z. 274.1/274.2).

Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche sind reine Geschwindigkeitsbeschränkungen und haben sonst keinerlei besondere Verkehrsregelung oder Fußverkehrsrechte zur Folge. Dennoch geben bei Verknüpfung mit einer aufenthaltsorientierten (Um-)Gestaltung relativ viele fahrer/innen freiwillig ihr Revierverhalten und somit ihre Vorfahrt auf. Wegen des engen rechtlichen Korsetts für den Fußverkehr (§ 25 StVO, siehe Kasten) ist der Einsatz Verkehrsberuhigter Geschäftsbereiche im Falle linearen Querungsbedarfs nur bei begehbaren Mittelstreifen und allenfalls mäßiger Pkw-Parkdichte als wirklich fußgängerfreundlich zu werten. Trotzdem profitieren die Fußgänger/innen von jeglicher Verlangsamung gegenüber Tempo 50.

Varianten mit Mischfläche undgrundsätzlichem Fußverkehrsvorrang

  • Verkehrsberuhigter Bereich
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Fragwürdige Sonderlösung: Fußgängerzone mit uneingeschränkter Freigabe für Pkw in Verden/ Aller (Rad- und Liefer-Lkw-Verkehr eigentlich nicht erlaubt). Variante wird aus Platzgründen im Text nicht vertieft. (Foto: A. Schwab)

Wo immer möglich, sollte anstatt einer bloßen Temporegelung eine echte Mischfläche angeordnet werden. Der Verkehrsberuhigte Bereich (Zeichen 325.1/325.2 [-1-]) gewährt Fußgänger/innen umfangreiche Sonderrechte: Vorrang vor den Fahrzeugen, Aufenthalts- und Spielrecht auf der ganzen Verkehrsfläche und die Freiheit, nach Belieben kreuz und quer, längs und schräg zu gehen, solange der Fahrzeugverkehr nicht unnötig behindert wird. Jener darf maximal Schrittgeschwindigkeit fahren, Fußgänger/innen nicht behindern und nur in gekennzeichneten Flächen parken (Beschilderung, Markierung oder Farb- bzw. Materialvariation im Belag). Dabei ist grundsätzlich sogar ein linksseitiges Parken erlaubt, auch wenn es sich nicht um eine Einbahnstraße handelt (das entsprechende Verbot gem. § 12 gilt nur für Fahrbahnen, die es hier aber nicht gibt). Störendes Parken sowie zu hohe Fahrgeschwindigkeiten können einfach überwacht und geahndet werden. Außerdem stellt die StVO beim Verkehrsberuhigten Bereich noch einmal ausdrücklich klar, was § 1 schon vorgibt: Fahrzeugführer dürfen Fußgänger/innen nicht gefährden. Die Anordnung anderer Verkehrszeichen samt Markierungen soll in Verkehrsberuhigten Bereichen grundsätzlich unterbleiben, so dass die Zonen intern meistens unbeschildert sind - und damit stadtgestalterisch gleichwertig zu „Nackten“ Straßen.

 

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Geht doch! Verkehrsberuhigter Bereich Opernplatz Duisburg: Fußverkehrsvortritt mit bislang höchster Kfz-Dichte (18.000 Kfz/Tag) und Schritttempo. Verbesserungsoption: Entfernung der Lichtsignalanlagen mit vollständiger Signalfolge beidseits hinter dem Platz (ggf. Dunkelanlage). (Foto: A. Schwab)

Verkehrsberuhigte Bereiche sind schon seit ihrer Einführung 1980 auch außerhalb von Wohnstraßen einsetzbar, eine deutsche Innovation, die später von einigen anderen Ländern übernommen wurde (Niederlande 1988, Schweiz 2002, Belgien 2004, Frankreich 2008). Das zum 1.9.2009 für Neuanordnungen Verkehrsberuhigter Bereiche eingeführte neue Einsatzkriterium „nur (...) mit sehr geringem Verkehr“ in der VwV-StVO [-1-] ist planerisch mit ca. 400 Kfz/h zu übersetzen (siehe Kasten, Buchstabe c). In der Praxis gibt es aber auch bewährte Einsatzfälle mit sehr viel höheren Kfz-Mengen, bis zu 1.800 Kfz/h (Opernplatz Duisburg) [-8-]. Oberhalb von ca. 400 Kfz/h steht nicht mehr der Aufenthalt, sondern die freizügige und sichere Überquerung im Vordergrund. Mit diesem Ziel bietet sich der Einsatz Verkehrsberuhigter Bereiche auch dort an, wo sie oder eine Fußgängerzone eine „normale“ Straße kreuzen (Einsatz z.B. in Bensheim, Karlsruhe, Kelkheim, Koblenz und Köln).

Die Anwendung Verkehrsberuhigter Bereiche bei stärker befahrenen Geschäftsstraßen und Plätzen scheitert häufig an zwei Regelungsinhalten: Einerseits an der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Schritttempo (Gerichtsurteil-Definitionen: 4 – 10 km/h), andererseits an der Erlaubnis zur flächenhaften Durchführung von „Kinderspielen“ (rein theoretische Problematik). Deshalb fordern immer mehr Fachverbände, in Deutschland zusätzlich zum Verkehrsberuhigten Bereich ein Mischflächen-Reglement speziell für stärker befahrene Straßen einzuführen: Die Begegnungszone. Die Begehbarkeit der Straßenmitte von Haupteinkaufsstraßen verstärkt die Anziehungskraft (was für Kleinstädte nachgewiesen wurde [-9-]).

Verkehrsberuhigte Bereiche: Mehr Anwendungsspielraum als meist angenommen

Die VwV-StVO zu Zeichen 325.1 / 325.2 [-1-] hat drei Einsatzkriterien, die häufig als Ausschlusskriterium gedeutet werden, doch sogar die Anwendung in Hauptverkehrsstraßen zulassen:

  • a.) „in der Regel [...] niveaugleicher Ausbau für die ganze Straßenbreite“: Nicht generell Pflicht („in der Regel“ heißt: Abweichungen möglich). Auch planungstechnisch (RASt 06) ist die weitgehende Beibehaltung von Bordsteinen in Einzelfällen zulässig (Kosteneinsparung; Denkmalschutz), sollte mit geschwindigkeitsdämpfenden Elementen kombiniert werden.
  • b) „nur (...) einzelne Straßen oder (...) Bereiche mit überwiegender Aufenthaltsfunktion“: Eine Mehrheit verweilender Personen kann nicht gefordert sein, denn das gleiche Kriterium gilt auch für Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche (§ 45 StVO Abs. 1d). Es geht um das Erscheinungsbild sowie das städtebauliche Ziel (VwV-StVO: „Die gekennzeichneten Straßen müssen durch (!) ihre besondere Gestaltung den Eindruck (!) vermitteln, dass die Aufenthaltsfunktion überwiegt“.
  • c) „nur (...) einzelne Straßen oder (...) Bereiche mit (...) sehr geringem Verkehr“: Oft wird die zum 1.9.2009 eingefügte Klausel als Vorgabe zur Höhe des Fahrzeug- oder gar Kfz-Verkehrs gedeutet. Da die niedrigste Aufkommensklasse der RASt 06 bis zu 400 Fahrzeuge pro Stunde umfasst, ist dieser Wert als fachtechnische Konkretisierung der unbestimmten Rechtsvorgabe bezüglich „sehr geringem Verkehr“ heranziehbar. Die Formulierung lässt sich übrigens so deuten, dass sich das Einsatzkriterium lediglich auf „Bereiche“, also mehrere zusammenhängende Straßen und ggf. Plätze bezieht, nicht aber auf „einzelne Straßen“. Nebenbei: Während Zonen-Geschwindigkeitsregelungen nicht auf klassifizierten Straßen eingesetzt werden dürfen, gibt es keine derartige Einschränkung bei Z. 325.1 / 325.2!
  • Begegnungszone

Die Begegnungszonen in der Schweiz und in Frankreich sind Mischflächentypen, die viele Ähnlichkeiten zum verwandten Verkehrsberuhigten Bereich aufweisen und von ihm die Einsetzbarkeit in Geschäftsstraßen übernommen haben. Zwei von drei Verkehrsregel-Abweichungen begünstigen den Einsatz außerhalb von Wohnstraßen und sind deshalb Grund für diverse Einführungsbestrebungen in Deutschland: Erstens wird eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h gestattet, was mehr Akzeptanz bei Straßenverkehrsbehörden, Ratsleuten, Medien und ÖPNV-Unternehmen erwarten lässt (und abseits von kinderreichen Wohnstraßen verantwortbar erscheint). Zweitens gewährt das Schild keine Spielrechte, womit ein Hauptargument gegen die Anordnung einer Mischflächen entkräftet wird [-10-]. Ferner kann das „Ende“-Schild, anders als in Deutschland, kein Vorfahrt-gewähren-Schild ersetzen (betrifft Fahrzeuge, die in eine unmittelbar anschließende Querstraße ausfahren) [-11-].

Die Schweizer administrativen Einsatzbestimmungen sind teils großzügiger als die deutschen VwV zum Verkehrsberuhigten Bereich [-12-], teils aber auch strenger: Weniger vorbildlich ist etwa die Begrenzung der Zulässigkeit auf „Nebenstrassen“ (Art. 2a Signalisationsverordnung). In beiden Ländern basieren die interessantesten Beispiele auf einer großzügigen Interpretation der Bestimmungen. So gibt es auch Schweizer Anwendungsfälle auf Hauptstraßen (z.B. Grenchen, Burgdorf). Alle haben sich – wie entsprechende Fälle in Deutschland (z.B. Duisburg, Kevelaer und Brühl) – bewährt. Bis auf künstlerisch gestaltete Straßenräume (z.B. St. Gallen, Horgen) gibt es zu sämtlichen Schweizer Anwendungsfällen von Begegnungszonen deutsche Pendants in Form Verkehrsberuhigter Bereiche (z.B. Geschäftsstraßen, Altstadtkerne, Plätze, Bahnhofplätze, Querungsstellen, Wohnstraßen). Etwa 90 % der ca. 600 Schweizer Begegnungszonen sind Wohngebietsanwendungen. Von 1978 bis zur Einführung der ab 1996 erprobten Begegnungszonen Anfang 2002 gab es in der Schweiz die Regelung „Wohnstrasse“. Sie war einzig in Wohngebieten anwendbar, wobei die Straßen – anders als heute – nur kurz und nur sehr schwach befahren sein durften. Auch die „Wohnstrasse“ gestattete schon eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h, wurde aber wegen strenger Auflagen weniger als 100 mal eingesetzt. Schweizer Begegnungszonen belegen im Übrigen die Notwendigkeit, die Beschilderung mit einer entsprechenden Straßenraum(um)gestaltung zu kombinieren. [-13-]

Gänzlich neu und unter Schweizer Einfluss wurde die Begegnungszone vor zwei Jahren in Frankreich eingeführt, wo es zuvor noch keine Regelung aus der Woonerf-Familie gegeben hatte. Das dortige Verkehrszeichen B52 / B 53 integriert die Höchstgeschwindigkeitsangabe nach Schweizer Vorbild, unterscheidet sich jedoch deutlich von den Schildern aus der (Woon-)Erf-Familie, z.B. durch die fast quadratische Form und den Verzicht auf Häuschen, Kind, Ball und Straßenrand-Linie. Damit gibt es keine Verwechslungsgefahr zu den in über einem Dutzend europäischen Ländern gebräuchlichen blauen Schildern mit Spielerlaubnis. Dadurch erhöhen sich die Aussichten auf internationale Kompatibilität des neuen Zeichens, das noch nicht in der Wiener Konvention enthalten ist.

Begegnungszonen – Entwicklung und Herkunft

Internationale Beiträge zu den Verkehrszeichen und -regeln in der Schweiz und in Frankreich

1. NL: Woonerf (1976) – Urkonzept für Wohnsträßchen (mit Spielerlaubnis und Schritttempo):

  • Fußverkehr darf ganze Verkehrsfläche benutzen (Mischungsprinzip)
  • Fußverkehr darf Fahrzeuge nicht unnötig behindern
  • Fahrzeuge müssen nötigenfalls warten (Fußgängervortritt)
  • eingeschränktes Kfz-Halteverbot außerhalb gekennzeichneter Stellplätze

2. B: Woonerf / Zone résidentielle (1977) – Übernahme des Woonerfs mit folgenden Neuerungen:

  • Höchstgeschwindigkeit 20 km/h statt Schrittgeschwindigkeit,
  • Verkehrszeichen mit „Fußgänger/in“, „Kind“, „Kfz“, „Haus“ (und „Ball“ und „Straßenrand“)

3. D: Verkehrsberuhigter Bereich (1980) - Übernahme des Woonerfs mit folgenden Neuerungen:

  • Freigabe der Anwendung außerhalb von Wohngebieten
  • Verzicht auf Höchstverkehrsmengenvorgabe als Einsatzkriterium (bis 2009)

4. CH: Begegnungszone / Zone de rencontre (2001/02) – Modifikation der „Wohnstrasse“ (1979):

  • Name „Begegnungszone“
  • Wegfall der regelungsinkludierten Spielerlaubnis
  • Verkehrszeichen ohne Ball und Straßenrand (mit weißen Rahmen und Schriftzug „ZONE“)
  • Höchstgeschwindigkeitsangabe (20 km/h) auf Verkehrszeichen

5. F: Zone de rencontre (2008) – Übernahme der Begegnungszone mit folgender Neuerung:

  • Eigenständiges Verkehrszeichen ohne „Kind“ und „Haus“, doch mit „Fahrrad“.

Für Regelungen mit dem gebräuchlichen, querformatigen Schild (internationale Zeichen-Nr. F17a / E17b) gewährt das Abkommen den Staaten die Freiheit, Höchstgeschwindigkeiten zwischen Schritttempo und 20 km/h festzulegen. Die Ursprungsregelung, der niederländische Woonerf, hatte erstgenanntes Tempo. Belgien, das erste Land, das die Regelung importierte, nahm dabei schon 1977 die Modifikation bezüglich Tempo 20 vor („Zone résidentielle / Woonerf“). Die dort inzwischen eingeführte Anwendungsbereichsausweitung unter dem Namen „Zone de rencontre“ ist allerdings nicht mit den vorgenannten Begegnungszonen zu vergleichen (siehe Kasten).

„Begegnungszonen“ in Belgien ?
Hauptunterschiede der belgischen „Zone de rencontre“ zu denen in der Schweiz und in Frankreich: Erstens gibt es den Begriff nur regional (Wallonie; in Flamen dagegen Benennung nach dem niederländischen Vorbild „Erf“, d.h. Hof). Zweitens wird das Spielen durch das Verkehrszeichen gestattet. Drittens wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit (20 km/h) nicht auf dem Schild dargestellt. Viertens gibt es kaum Umsetzungsfälle, weil die Behörden die restriktive Einsatzbedingungen analog zur parallel existierenden Wohnstraßen-Regelung anwenden. Vorbildlich ist in Belgien zum einen das Nebeneinander von „Begegnungszone“ und „Wohnstraße“ („Woonerf“ / „Zone résidentielle“), allerdings mit dem gleichen Schild; zum anderen die explizite Anwendungsfallausweitung der „Zone de rencontre“ auf Hochschul-/Schulumgebungen und Erholungsbereiche.

Fazit

Humanere Hauptverkehrsstraße tragen u.a. zur Stärkung der Nahversorgung, zur Aufwertung und Vernetzung von Quartieren und zu mehr (Straßenraum-)Kultur bei. Um nachhaltige Verhaltensänderungen bei den Verkehrsteilnehmern im Sinne von Koexistenz zu erwirken, ist eine entsprechende (Um-) Gestaltung erforderlich – egal ob es sich um unbeschilderte oder beschilderte Varianten handelt. Die besondere Bedeutung von „Aufenthalt“ und Fußverkehr muss erkennbar sein. Dementsprechend sollte ein überdurchschnittliches Fußverkehrsaufkommen längs und v.a. quer zum Fahrzeugverkehr gegeben sein. Eine wesentliche Erfolgsbedingung ist darüber hinaus, dass der Parkdruck gering ist (Angebot ausreichender Abstellmöglichkeiten im Nahbereich, allenfalls sparsame und geordnete Zulassung von Halte-/Park- bzw. Liefervorgängen von Kfz). Beruhigend wirken generell integrierte sowie vor- und nachgelagerte kleine Kreisverkehrsplätze. Sie senken die Geschwindigkeit unbehinderter Fahrzeuge im Vergleich zu vorfahrtsbeschilderten und beampelten Knotenpunkten (Wegfall von Sog-Grün-Raserei). Eine Verdrängung von Pkw-Verkehren ergibt sich daraus nicht, weil meistens die Durchschnittswartezeiten sinken - und je nach angeordneter Höchstgeschwindigkeit - sogar Fahrzeitverkürzungen auftreten können. Auch der unbeschilderte Pseudo-Kreisel in Bohmte hat die beschriebenen Wirkungen [-14-].

In Anbetracht der angespannten Finanzsituation und im Hinblick auf die Verringerung der Anwohner-Erschließungsbeiträge sollten verstärkt kostengünstige Lösungen erprobt und eingesetzt werden, wobei besonderer Wert auf städtebauliche Qualität zu legen ist. Während schon zwei Bundesländer Modellvorhaben angestoßen haben, scheint die Aufgabenstellung, die Verkehr, Bau und Städtebau betrifft, beim gleichnamigen Bundesministerium noch nicht angekommen zu sein.

Eine entwurfstechnische Herausforderung besteht bezüglich der Gestaltung von Blinden- und Sehbehindertendetails in niveaugleich ausgebauten bzw. weich separierten Straßen und Plätzen. Die Elemente müssen natürlich erkennbar sein, damit sie benutzbar und vor einer Zustellung durch Fahrzeuge und andere Gegenstände geschützt sind. Gleichzeitig sollten sie auch gestalterisch integriert sowie unmissverständlich sein (keine Fehldeutung als Markierung). Eine frühzeitige und umfassende Partizipation der Betroffenen ist wichtig.

Verkehrsberuhigung und ÖPNV

Linienbus- und Straßenbahnunternehmen neigen dazu, jede Verminderung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu problematisieren. Hier ist im Einzelfall zu prüfen, ob der ÖPNV tatsächlich Nachteile erfährt, zumal der konkurrierende Motorisierte Individualverkehr (MIV) gleichermaßen verlangsamt wird. Wo tatsächlich durch wenige Sekunden Fahrzeitverlängerung Anschlüsse entfallen oder zusätzliche Fahrzeuge und zusätzliches Personal finanziert werden müssen, sollten Beschleunigungsmaßnahmen an anderer Stelle geprüft werden. Im übrigen ist zu bedenken, dass Kreisverkehrsplätze den Fahrkomfort der Busfahrgäste bei geradeaus fahrenden und linkssabbiegenden Linien beeinträchtigen können. Ggf. ist übergeordnet abzuwägen. Im Regelfall stellen erhöhte Haltestellenkanten in die betreffenden Platz- und Straßenräume keine Barriere für den Fußverkehr dar, solange es sich nicht um Hochbahnsteige handelt; für Mobilitätsbehinderte sind an geeigneten Stellen Bordabsenkungen vorzusehen.[vgl. -16-]

Durch eine Bevorrechtigung des Fußverkehrs und sein linienhaftes freie Queren sind grundsätzlich keine wesentlichen Fahrzeitverluste zu erwarten, da Fußgänger/innen dem ÖPNV gegenüber häufig auf ihren Vorrang verzichten (z.B. in Biel/CH ermittelt). Niedrigere zulässige Höchstgeschwindigkeiten können im Einzelfall zu Mehrfahrzeiten führen; oft kommt es aber bei Ersatz von LSA durch Kreisverkehrsplätze sogar zu Fahrzeiteinsparungen (z.B. in Drachten und Bohmte ermittelt), von denen auch der ÖPNV profitiert. Die Hauptbedenken der ÖPNV-Unternehmen gegen eine Bevorrechtigung des Fußverkehrs resultieren aus der problematischen Rechtslage, die eine persönliche Haftung von Busfahrer/innen im Falle eines Personenschadens impliziert und damit zu großen unternehmensinternen Widerständen durch die Personalvertretungen der Unternehmen führt. Für den ÖPNV zahlt es sich aus, weiterhin direkt in die Geschäftsstraßen zu fahren (wichtige Zeil- und Quelorte von Fahrgästen); sonst würden nicht etwa mindestens ein Dutzend Linienbusunternehmen Fußgängerzonen befahren (z.B. in Bayreuth, Hanau, Göttingen).

Die Shared-Space-Diskussion bringt Schwung in die allerorten notwendige Verkehrsberuhigung angebauter Hauptverkehrsstraßen, eine noch selten von den Verantwortlichen erkannte und noch seltener angepackte oder gar gelöste Aufgabe. In Deutschland und Österreich sind speziell umweltbewegte und ansonsten eher deregulierungskritische Personenkreise von der Idee der unbeschilderten „Naked Street“ begeistert. Aus Faszination für die vermeintliche Regellosigkeit wird übersehen oder gebilligt, dass es sich dabei um eine Variante handelt, die Fahrzeuge bevorrechtigt, Fußgängerrechte einschränkt, das Ziel der selbsterklärenden Straße verfehlt, Tempo 50 beinhaltet und damit konträr zu den Belangen von Fahrradverkehr und Lärmschutz steht. Solange es kein straßenverkehrsrechtliches Instrumentarium zur lokalen Einführung einer Gleichberechtigung zwischen Fuß- und Fahrzeugverkehr gibt, stellt sich zwangsläufig die Frage, welche der beiden Verkehrsarten den juristischen Vorrang erhält. Aus Fußgängersicht sind Betriebsvarianten mit Fußverkehrsvortritt (Verkehrsberuhigter Bereich, Begegnungszone) eindeutig gegenüber unbeschilderten Varianten und reinen Temposenkungen (30 km/h, Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich) vorzuziehen. In Straßen mit großem linearen bzw. flächigem Querungsbedarf bzw. ohne ausreichende Gehwegbreiten muss der Fußverkehr im Mittelpunkt stehen. Hierfür spricht auch die gesetzliche und ethische Verpflichtung zur Barrierefreiheit – selbstständige Nutzbarkeit für alle, nicht zuletzt Kinder und Alte. Verkehrsberuhigte Bereiche und Begegnungszonen sind das ästhetische und funktionale Optimum, beinhalten sie doch überall einen flächenhaften Zebrastreifen, der unsichtbar ist und somit gestalterisch nicht stört. Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche können als Zwischenlösung zum Einsatz kommen, wo die Straßenverkehrs- oder -baubehörden unter Berufung auf den bisherigen, unzureichenden Rechtsrahmen andere Anordnungen verweigern.

 

Schwab-E-FUSS-Vorschlag-B600
Spielstraße + Begegnungszone: Vorschlag von FUSS e.V. zur Modernisierung der StVO (2008); Bausteine einer plausiblen Höchsttempo-Hierarchie 10 – 20 – 30 – 50 km/h

Übrigens erfordern auch „nackte“ Straßen i.d.R. mindestens ein Verkehrszeichen: Wenn sie Knotenpunkte mit einer vormaligen Vorfahrtsstraße umfassen, muss deren Ende beschildert werden (z.B. mit Zeichen 307 wie in Bohmte). Warum nicht gleich ein Schild, das auch das Parken ordnet, dem Fußverkehr Freiheiten und Rechtsschutz gewährt und die zulässige Höchstgeschwindigkeit humanisiert (Verkehrsberuhigter Bereich bzw. Begegnungszone)? Kommunikative Interaktion zwischen Verkehrsteilnehmer ist physiologisch nur im niedrigen Geschwindigkeitsspektrum möglich, weil Menschen evolutionär nur im Nahbereich ihres eigenen Lauftempos (ca. 20 km/h) ein breites Sichtfeld haben und wahrnehmen können, was links und rechts geschieht. Hinsichtlich der Verkehrssicherheit sind in bislang unfallmäßig unauffälligen Straßenabschnitten durch die o.g. Ansätze i.d.R. keine auffällligen Sicherheitsvorteile zu erwarten, aber auch keine Sicherheitsnachteile. [-15-]

Die bundesweite Umsetzung der längst überfälligen Verkehrsberuhigung von Hauptverkehrsstraßen muss durch Weiterentwicklung des Straßenverkehrsrechts erleichtert und beschleunigt werden (Einführung der Begegnungszone, Regel-Innerortsgeschwindigkeit 30 km/h oder zumindest Ermöglichung von Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Hauptverkehrsstraßen aus städtebaulichen Gründen). Bis dies erfolgt, können und sollten die Kommunal- bzw. Landesverwaltungen das bisherige Instrumentarium fußverkehrsfreundlich(er) auslegen und anwenden.

Anmerkungen

0. Bereits Hans Monderman (1944-2008) bezeichnete Straßenraumumbauten, die dem Trennprinzip folgen, als Shared Space: Zum einen sein Projekt Laweiplein in Drachten, ein konventioneller Kleiner Kreisverkehrsplatz mit Verkehrszeichen bzw. Markierungen zur Vorrangregelung sowie einer üblichen, nicht begehbare Mittelinsel (städtebauliche Aufwertung gegeüber der vorherigen beampelten Kreuzung); zum anderen das von anderen Akteuren realisierte Mittelstreifen-Projekt Kensington High Street in London. - Der Begriff „Shared Space“ ist die freie englische Übersetzung des niederländischen Arbeitstitels „Ruimte voor allen“ („Raum für alle“), den der 2008 verstorbene Planer Hans Monderman geprägt hat (durch Ben Hamilton-Baillie).

  1. Die zum 1.9.2009 in Kraft getretene Novelle von StVO wurde vom Bundesverkehrsminister im April 2010 vorübergehend außer Kraft gesetzt. Sie sieht u.a. die Umbenennung der bisherigen Verkehrszeichen 325 und 326 in 325.1 und 325.2 vor. Für den Fußverkehr beinhaltet sie Verschlechterungen, etwa die Aufgabe von Schritttempo als zulässige Höchstgeschwindigkeit bei Fußgängerbereichen oder Gehwegen mit Fahrzeugfreigabe. Diese Tempoveränderungen sowie das neue, empirisch unbegründete Verkehrsmengenlimit bei der Anordnung Verkehrsberuhigter Bereiche in der VwV-StVO müssen aus Sicht des FUSS e.V. rückgängig gemacht werden – am besten schon mit der „Reparaturnovelle 2010“.
  2. Im Ansatz nichts Neues: Der nicht beschlossene Verordnungsvorentwurf zur Einführung des Verkehrsberuhigten Bereichs in Deutschland von 1979 sah vor, dass in jenen die Vorfahrtsregelung zwischen Fahrzeugen an Knotenpunkten durch gegenseitige Verständigung erfolgt.
  3. Leider fordern die RASt 06 seitliche Schutzzonen beim „Mischungsprinzip“ nur zur Vermeidung der Kfz-Befahrung (6.1.1.11). Für Anwendungsfälle von Z. 325 hat(te) die VwV-StVO in der Fassung bis 31.8.2009 eine Klarstellung, dass bestimmte Teile der Mischfläche von der Befahrung – auch durch Fahrräder – freigehalten werden können. Zum 1.9.2009 gestrichen, sollte er mit der gerade entstehenden „Reparatur“ der StVO wieder aufgenommen werden.
  4. Genau wie in jeder „normalen“ Straße haben Fußgänger/innen nur gegenüber Fahrzeugen Vorrang, die entweder im Knotenpunkt nach einem Abbiegevorgang kreuzen oder den Gehweg überfahren (vgl. §§ 9 u. 10 StVO). Im Hinblick auf das Vorrangverhältnis von Fuß- und Fahrzeugverkehr besteht übrigens ein redaktioneller Klarstellungsbedarf bei der StVO-Formulierung. Bei Verkehrsberuhigten Bereichen wird die bisherige Formulierung zumeist irrtümlich als Gleichberechtigung Aller gedeutet.
  5. Die deutschen Richtlinien für die Anlage und Ausstattung von Fußgängerüberwegen (R-FGÜ 2001) halten Zebrastreifen in Tempo-30-Zonen für „in der Regel entbehrlich“ und ließen Neuanordnungen der meisten Shared-Space-Zebrastreifen in Haren und Drachten wegen der dortigen Kfz-Mengen nur mit Mittelinseln zu.
  6. In speziellen Situationen können Zonen-Beschilderungen (s.u.) verkehrsrechtlich eine größere Realisierungsschance haben als Streckenbeschilderungen.
  7. Für Tempo-30-Zonen gibt es daneben ein verkehrsrechtliches Antragsrecht der Gemeinden (VwV-StVO zu § 45). Wenn sie kein Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich sind, bestehen z.T. abweichende Anordnungsvoraussetzungen.
  8. Erhebung der Planersocietät Dortmund, repräsentativer Werktag 2009/10
  9. Vgl. Studien von Lars Gemzøe, Center for Public Space Research / Architekturfakultät der Kunstakademie Kopenhagen, zit. n.: Schepel, Steven: Woonerf revisted. Delft as an example. Manuskript zur Tagung Childstreet 2005, S. 12
  10. Dennoch kann das Spielen in Begegnungszonen zugelassen sein, wie z.B. in der Schweiz durch eine schilderunabhängige, allgemeine Regelung (Art. 46 bzw. 50 Verkehrsregelnverordnung).
  11. Das Zusatzabkommen zur Wiener Konvention gestattet beide Alternativen nationalstaatlicher Regelungen zum „Ende“-Schild.
  12. Interessant für Anwendungsfälle in Geschäftsstraßen kann die Schweizer Pflicht zu Vor- und Nachuntersuchungen sein. Die Vorgabe zur Ausbildung von „Toren“ am Beginn und Ende ist von der originalen Woonerf-Regelung 1976 aus NL übernommen.
  13. Beispiel: In der rein beschilderten Anfangsphase der Begegnungszone „Bahnhofstrasse“ in Grenchen (CH) kam es kaum zu Verlangsamungen des Kfz-Verkehrs. Vgl.: Meister, Parzifal: Begegnungszone wird nicht beachtet. In: Berner Zeitung / Solothurner Tagblatt, Online-Ausgabe, Aktualisiert am 23.1.2009, www.bernerzeitung.ch/region/solothurn/Die-ignorierte-Begegnungszone/story/27942769 (Abruf 15.6.2010)
  14. Vgl. Bode, Wolfgang et al.: Verkehrsuntersuchung in der Gemeinde Bohmte unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungen des Shared Space Bereiches. Auftraggeber: Gemeinde Bohmte. Osnabrück 2009
  15. Gerlach, Jürgen / Ortlepp, Jörg / Voß, / Heiko: Shared Space. Hrsg.:. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Berlin 2009
  16. Vgl. Nickel, Bernhard E.: Shared Space und der ÖPNV. In: Der Nahverkehr 10/2009, S- 20-26

 

Dieser Artikel von Arndt Schwab ist - stark verkürzt – in http://www.verkehrszeichen-online.de/, H. 2/2010, erschienen.