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Wenn von Straßen die Rede ist, meint man fast immer nur den Verkehr – meist sogar nur den Autoverkehr – der sich darauf abwickelt. Die Straße ist aber immer auch sozialer Lebensraum der Menschen. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 „Integration und Ausschluss“ des Schweizerischen Nationalfonds ergab sich die Gelegenheit zur näheren Untersuchung, welche Aus-wirkungen der motorisierte Verkehr auf die sozialen Beziehungen im Quartier hat. Bereits Ende der sechziger Jahre hat sich Donald Appleyard in San Francisco pionierhaft mit dieser Frage befasst und die Resultate in seinem Buch „Livable Streets“ anschaulich geschildert. Seither ist es aber um dieses Thema stiller geworden, allerdings scheint es eine kleine Renaissance solcher Studien zu geben. Gleichzeitig zu unserer Untersuchung wurde eine ähnliche Studie in vier New Yorker Stadtteilen durchgeführt, die übrigens zu vergleichbaren Resultaten gelangte.

Untersuchungsgebiet

Für unsere Untersuchung haben wir drei verschiedene Straßentypen in sozial durchmischten, dicht bebauten Quartieren der Stadt Basel ausgewählt. Eine Straße mit Tempo-50, eine in einer Tempo-30 Zone und drei so genannte Begegnungszonen. In diesen gilt eine Geschwindigkeitslimit von 20 km/h und Fußgänger haben Vortritt. Das Kinderspiel ist erlaubt, der motorisierte Verkehr darf dabei aber nicht übermäßig behindert werden. (1) Von den drei untersuchten Begegnungszonen wurde eine im Jahr 2003 nach neuem Recht eingerichtet, und zwei bestanden schon seit mehr als 25 Jahren. Sie gehörten zu den ersten Wohnstraßen der Schweiz.

Insgesamt wurden also fünf Straßen bzw. Straßenabschnitte in die Untersuchung einbezogen. Trotz einiger Verschiedenheiten weisen sie alle relativ große Ähnlichkeiten bei der Bebauungsstruktur und Bevölkerungszusammensetzung auf. Auch die Mieten sind vergleichbar.

Integration und Ausschluss

Während Integration meist nur auf die ausländische Bevölkerung bezogen wird, war der Ansatz in unserer Studie breiter: Alle Menschen, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, ob Ausländerin oder Einheimische, ob arm oder reich, ob mit oder ohne Behinderung – jede und jeder hat Anspruch darauf, selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben im öffentlichen Raum teilzuhaben. Die Integrationspotenziale wurden aufgrund theoretischer Analysen in drei Dimensionen gemessen:

Die strukturelle Dimension umfasst die Zugänglichkeit, Nutzbarkeit und Sicherheit im öffentlichen Raum – objektiv und als Einschätzung durch die Bewohner. Bei der interaktiven Dimension geht es um Nachbarkschaftskontakte, um die Nutzung des öffentlichen Raums und um Mitbestimmungsmöglichkeiten. Und die subjektive Dimension betrifft die persönliche Zufriedenheit und das geäußerte Wohlbefinden.

Zwischen den Dimensionen kann es zu Widersprüchen und Paradoxien kommen. So kann unter Umständen die Ausgrenzung in einer Dimension zur Integration in einer anderen beitragen, z.B. wenn bauliche Hürden einem Menschen mit Behinderung die selbständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erschweren, aber eine Nachbarin mit Serviceleistungen aushilft. Weil es grundsätzlich schwierig ist, ja vermessen wäre, von außen zu bestimmen, ob jemand integriert ist oder nicht, verwenden wir in der Studie den Begriff der Integrationspotenziale und sprechen nicht von sozialer Integration per se.

Methodisches Vorgehen

Zur Einschätzung der beiden ersten Dimensionen haben wir Strukturanalysen und Beobachtungen im öffentlichen Straßenraum durchgeführt. Anschließend wurden die Bewohner der Straßen schriftlich nach ihrer persönlichen Beurteilung der drei Dimensionen gefragt. In der Analyse haben wir dann überprüft, inwiefern der Straßentyp (Tempo-50, Tempo-30, Begegnungszone) beziehungsweise die Sozialstruktur (Alter, Geschlecht, Nationalität, sozialer Status, Haushalttyp) die Wahrnehmung und Einschätzung der drei oben erwähnten Dimensionen beeinflusst.

Ergebnisse der Befragung

In der strukturellen Dimension führen niedrigere Geschwindigkeiten zu einem deutlich höheren Sicherheitsgefühl der Bewohner, was natürlich nicht überrascht. An der Tempo-50 Straße sagen 85% der Befragten, dass es für Kinder und ältere Personen sehr oder eher gefährlich ist, bei Tempo 30 sind es noch 51% und in den Begegnungszonen 24%.

Auch die Angst vor körperlichen Übergriffen und Belästigungen ist in den Begegnungszonen deutlich geringer als in der Tempo-30 und Tempo-50 Straße, vor allem bei Frauen. Ein direkter Vergleich der drei aneinander grenzenden Straßen im St. Johann-Quartier zeigt, dass der Anteil der Frauen in der Begegnungszone, die gelegentlich Angst verspüren, mit 25% nur rund die Hälfte des Wertes der unmittelbar benachbarten Tempo-50 und der Tempo-30 Straßen ausmacht. Dieses Ergebnis hängt direkt und spiegelbildlich mit dem Vertrauen auf Nothilfe zusammen. In der Begegnungszone haben rund 87% der befragten Frauen das Gefühl, sie könnten im Notfall in ihrer Straße auf Hilfe zählen. Im Gegensatz dazu sagen dies nur etwas mehr als 60% an der Tempo-30 und Tempo-50 Straße.

In Bezug auf die interaktive Dimension wird häufig moniert, im Zeitalter der Individualisierung, des Internets und der totalen Mobilität spiele die Nachbarschaft im sozialen Leben der Menschen eigentlich keine Rolle mehr. Die Resultate unserer Studie ergeben allerdings ein anderes Bild: Rund zwei Drittel aller Bewohner haben an der eigenen Straße gute Bekannte oder Freunde, das heißt Beziehungen, die über oberflächliche Kontakte hinausgehen.

Befragte an den verkehrsberuhigten Straßen kennen durchschnittlich mehr Nachbarn persönlich als jene, die an der Tempo-50 Straße wohnen. Die Unterschiede zeigen sich vor allem bei den Kontakten zur gegenüberliegenden Straßenseite. Der Anteil der persönlich bekannten Nachbarn auf der andern Straßenseite reduziert sich bei der Tempo-50 und der Tempo-30 Straße wesentlich stärker als in den Begegnungszonen, was auf die beträchtliche Trennwirkung ersterer hinweist. Dies hängt neben dem höheren Verkehrsaufkommen und der Geschwindigkeit auch mit der dichten Parkierung zusammen. Weil Familien meist häufigere und intensivere Beziehungen zu ihren Nachbarn pflegen, sind sie auch besonders stark von der Trennwirkung betroffen.

Begegnungszonen werden meist mit dem Argument eingerichtet, dass dadurch Bewegungs- und Spielraum für Kinder geschaffen werden kann. Umgekehrt heißt dies, dass an Straßen mit wenigen Kindern, eine Begegnungszone oft gar nicht erst in Betracht gezogen wird. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen aber deutlich, dass solche Begegnungszonen von allen Altersgruppen geschätzt werden, insbesondere auch von älteren Menschen. Sie nutzen z.B. die Sitzbänke nicht nur für Gespräche sondern auch als Ort, wo sie auf ihrem Einkaufsweg eine kurze Pause einlegen und ihre Taschen abstellen.

Anwohner von Begegnungszonen verbringen deutlich mehr Zeit im eigenen öffentlichen Straßenraum als jene in der Tempo-30 Zone und diese wiederum mehr als jene in der Tempo-50 Straße. Bei allen Aktivitäten, die dort ausgeübt werden, ist das Niveau in den Begegnungszonen merklich größer als in den anderen Straßen.

Der Wunsch der Bewohner, an der Gestaltung ihrer Straße mitwirken zu können, ist an allen Straßen etwa gleich groß – er liegt bei etwa einem Drittel. In Begegnungszonen haben aber doppelt so viele Bewohner das Gefühl, auch tatsächlich mitwirken zu können; an der T-50 Straße sind es nur 28% und der T-30 Straße 31%. Das hat zur Folge, dass die Identifikation mit der Straße, das Zugehörigkeitsgefühl und damit die Bedingungen für Integration in Begegnungszonen bedeutend besser sind.

Dieses Resultat wird auch in der subjektiven Dimension reflektiert. Bewohner von Begegnungszonen haben von allen am häufigsten das Gefühl, an ihrer Straße zu Hause zu sein. Rund ein Viertel äußert sogar, die Straße komme ihren Idealvorstellungen nahe. Im Gegensatz dazu sagen die Befragten an den Straßen mit Tempo-50 bzw. Tempo-30 signifikant häufiger, ihre Straße sei wie jede andere auch und das sei nur ihr momentaner Wohnort. Wer zufrieden ist, bleibt zudem deutlich länger an diesem Ort wohnen.

Das Gefühl, in einer Gesellschaft integriert zu sein, hängt von vielen Faktoren ab – von sozialen, ökonomischen, kulturellen etc. Trotzdem hat die Straße einen bedeutenden eigenständigen Einfluss auf das Integrationsgefühl. Während 30 Prozent der Bewohner der Tempo-50 Straße sagen, dass sie sich „eher weniger“ oder „überhaupt nicht“ integriert fühlen, beträgt dieser Anteil im Durchschnitt der Begegnungszonen und Tempo-30 Straße nur rund 13-14%. Das Gefühl, sehr gut integriert zu sein, ist in den beiden alten Wohnstraßen mit Abstand am größten, auch im Vergleich zur neu gestalteten Begegnungszone. Interessant ist, dass man trotz der Nähe in diesen Straßen keinen Verlust an Privatsphäre verspürt.

Fazit

Die vor 25 Jahren eingeführten Wohnstraßen sind eine eigentliche Erfolgsgeschichte. Ihre Wohnqualität und ihre Integrationspotenziale sind noch immer hoch, obwohl die Bewohnerschaft über die Zeit gewechselt hat. Bei neuen Begegnungszonen ist die Gestaltung des Straßenraumes bezüglich Parkierung sowie Verweil- und Spielmöglichkeiten noch zu verbessern. Auch wenn sich nicht alle Straßen zur Einrichtung einer Begegnungszone eigenen, können auch stark befahrene Straßen menschengerechter und damit integrativer gestaltet werden.

Die Politik initiiert zur Zeit zahlreiche, meist teure Integrationsprogramme für verschiedene Bevölkerungsgruppen. Dabei wird übersehen, dass ein großes und kostengünstiges Integrationspotenzial auf der Straße, vor der Tür liegt. Hier lernen die Kinder die Sprache, hier entstehen Kontakte zwischen den Altersgruppen, zwischen Ausländern und Einheimischen. Der öffentliche Raum wird häufig als Problem dargestellt; aber er ist vielmehr Teil der Lösung. Natürlich kann ein attraktiver Straßenraum nicht alle Probleme lösen, aber er ist unzweifelhaft ein wichtiger Beitrag zu mehr Integrations-Chancen im Quartier.

Obwohl unsere Studie keine Hinweise auf höhere Mieten in den verkehrsberuhigten Straßen und Begegnungszonen geliefert hat (im Gegenteil), sollte dieser Aspekt im Auge behalten werden. Eine ausgewogene Mischung von Wohnungstypen, -größen und Eigentümern (Privatpersonen, Firmen, Genossenschaften, städtische Liegenschaften) trägt zur Vermeidung von Verdrängungsprozessen im Quartier bei – sei dies die Verdrängung von einkommensschwachen Schichten (durch die so genannte „Gentrifizierung“) oder von mittelständischen Schichten mit dem Resultat, dass sich sozial Benachteiligte an einzelnen Straßen konzentrieren.

Und die Kosten? Zurzeit werden riesige Summen für die Mobilität ausgegeben – individuell und von staatlicher Seite. Dagegen sind die Ausgaben zur Aufwertung öffentlicher Räume minimal. Da die Menschen aber durchschnittlich während 23 Stunden des Tages nicht mobil sind, müsste eigentlich der größte Teil der Investitionen für die Qualität des nicht-mobilen Umfeldes ausgegeben werden. Von einer solchen Umschichtung der Investitionen weg von der Mobilität hin zur integrativen Lebensraumgestaltung profitieren alle Bevölkerungsgruppen.

In Kürze

Die Ergebnisse einer Studie zeigen, dass Straßen mit langsamem Verkehr und einer guten Umgebungsqualität bedeutende Integrations-potenziale aufweisen: Nachbarschaftskontakte sind häufiger und intensiver, die Trennwirkung der Straße ist wesentlich geringer und die Menschen fühlen sich wohler und sozial integrierter. Begegnungszonen bieten mehr Entfaltungsmöglichkeiten als die Tempo-30 Straße und diese wiederum mehr als die Tempo-50 Straße.

Quellennachweis:

  1. Die Begegnungszone in Wohnquartieren ist eigentlich eine Neuauflage der Wohnstraße und wurde in der Schweiz 2002 gesetzlich neu geregelt. Neben der vereinfachten Einführung und einem leicht geänderten Verkehrszeichen, kann die Begegnungszone neu auch in Zentrumsgebieten (z.B. vor Bahnhöfen, in Einkaufsgebieten) ausgeschildert werden (vgl. auch www.begegnungszonen.ch). Siehe auch den Beitrag http://www.strassen-fuer-alle.de/begegnungzone/42-verkehrsberuhigungstypen/begegnungszone/104-begegnungszone-in-der-schweiz.html in mobilogisch! 3/07, S. 28 ff.

 Weitere Informationen:

  • Appleyard Donald, 1981: Livable Streets. Berkely/Los Angeles/London
  • Transportation Alternatives, 2006: Traffic’s Human Toll. A Study of the Impacts of Vehicular Traffic on New York City Residents (vgl. https://www.transalt.org/news/reports )
  • Eine Zusammenfassung der Forschungsarbeit kann herunter geladen werden von www.kindundumwelt.ch. Ein ausführlicher Schlussbericht ist noch in Arbeit und wird ebenfalls auf dieser Website publiziert. Zudem sind einige Powerpoint-Folien, die für eine Präsentation an der Tagung ‚Stadtviertelkonzept und Nahmobilität II’ in München aufbereitet wurden, auf der Internetseite des SRL (http://www.srl.de/forum-mensch-verkehr.html ) abrufbar.

 

Dieser Artikel von Daniel Sauter, Urban Mobility Research Zürich und Marco Hüttenmoser, Dokumentationsstelle „Kind und Umwelt“ KUM, Muri (AG) ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2008, erschienen. 

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