Am 19. Mai 2008 wurde in Bohmte (Niedersachsen) das erste Shared-Space-Projekt in Deutschland für den Kfz-Verkehr freigegeben. Es handelt sich um das bisher konsequenteste und schlüssigste Vorhaben dieser Verkehrsberuhigungsphilosophie.

Ausgangssituation

Das Bohmter Shared-Space-Straßennetz umfasst insgesamt etwa 500 m Länge in leicht hügeliger Topographie, angeordnet in Form von zwei am Stamm gespiegelten „Y“. Der Fahrzeugverkehr konzentriert sich vor allem auf der Landesstraße 81 (Bremer Straße), die mit 12.500 Kfz/ Tag belastet ist, davon ca. 9 % Schwerverkehr. Vor dem Umbau war die zentrale Abzweigung mit einer Lichtsignalanlage versehen und überhaupt nicht als Platz erkennen. Das lag an der Technisierung des Straßenraums und einer ungünstigen Gestaltung der öffentlichen und privaten Freiflächen.

Verkehrsregelung

Erwartungsgemäß sind die Straßen im Ortskern nun ohne Verkehrszeichen. Lediglich ein Schild „Vorfahrt aufgehoben“ (Zeichen 307, mit Zusatz „Vorfahrt geändert") verweist auf die Neuregelung. In Abweichung von der reinen Lehre zu Shared Space gibt es auch bei diesem Musterprojekt keine Gleichrangigkeit zwischen den Verkehrsteilnehmer/innen: Der Fahrzeugverkehr organisiert sich untereinander durch die Rechts-vor-links-Regelung und hat in üblichem Umfang Vorrang vor dem Fußverkehr!

Die Lage innerhalb der geschlossenen Ortschaft und ein Fehlen abweichender Vorgaben bedin-gen automatisch eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h. Im Übrigen gelten die Grundregeln des § 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO, z.B. Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme) – bzw. der gesunde Menschenverstand. Die Fahrgassen der umgebauten Knotenpunkte wurden kreisrund angelegt, wobei sich nur derjenige im Ortsmittelpunkt als Kreisverkehrsplatz versteht. Mangels Verkehrszeichen 215 (Kreisverkehr) und 205 (Vorfahrt gewähren) gilt auch dort „Rechts vor links“, und zwar an jeder Zu-/Ausfahrt. Bisher umfahren ca. zehn Prozent des motorisierten Geradeausverkehrs die provisorische Mittelinsel links, was aber offensichtlich nicht mit ernsthaften Sicherheitsrisiken verbunden ist.

Besondere Regelungen, die das Parken oder Halten von Kfz regeln, gibt es nicht. Die anliegenden Grundstücke verfügen i.d.R. über genug Flächen zum Abstellen von Kfz. Darüber hinaus wäre das Parken im Straßenraum an vielen Stellen möglich und zulässig. Angesichts des fehlenden Parkdrucks und sozialer Kontrolle im dörflich-kleinstädtischen Milieu wird das im Konsens festgelegte städtebauliche Ziel, dass in den Straßen nicht geparkt werden sollte, zumeist verwirklicht.

(Städte-)bauliche Gestaltung

Die entspannte Kfz-Stellplatz-situation erübrigt eine Abpollerung bzw. sonstige Abriegelung der Randbereiche, die weder befahren noch beparkt werden sollen. Im Vergleich zu bekannten niederländischen Shared-Space-Projekten gibt es in Bohmte fast keine Straßenmöblierung, lediglich Straßenleuchten und einzelne Fahrradabstellanlagen. Das Ziel, einen unzerteilten, gemeinsamen Raum zu schaffen, wurde insofern erreicht. Unterstrichen wird dies dadurch, dass auch die meisten privaten Hof-flächen und private Wegeflächen die gleichen Oberfläche erhalten haben. Dies gelang durch kostenlose Bereitstellung der roten Klinkersteine seitens der Gemeinde – und gutes Zureden.

Allerdings ist das Ausbauprinzip eher als „weiche Trennung“ denn als Mischfläche einzustufen, da die Fahrgassen außerhalb der Kontenpunkte mit zwei Pflasterrinnen abgegrenzt sind. Zwar weisen die Rinnen die Farbe und das Material der übrigen Flächen auf, doch sind sie u.a. durch den Schattenwurf erkennbar. Die Fahrgassenbreite einschließlich Rinnen beträgt 5,80 m und erlaubt somit Lkw-Lkw-Begegnungen mit jeweils ca. 45 km/h Fahrgeschwindigkeit (wobei praktisch mehr Raum verfügbar ist). An beiden Straßenrändern gibt es jeweils fließend abgegrenzte Zonen für den Aufenthalt, das Längsgehen und das Abstellen von Gegenständen (Mülltonnen, Leuchten, Werbeschilder etc.).

Diese Teilräume sind kleiner als die Flächen links und rechts der Fahrgasse. Nach Einschätzung von Bürgermeister Klaus Goedejohann wird im Allgemeinen die Leuchtenreihe als Grenzlinie gewertet. Mitunter stehen Mülltonnen direkt neben der Pflasterrinne, ohne dass dies als problematisch empfunden würde. Eine weitere „Grenze“, die individueller Interpretation unterliegt, bildet der mindestens einseitig vorhandene weiße Kontraststreifen aus weißen Rillenplatten für stark Sehbehinderte und Blinde. An den Knotenpunkten markieren entsprechen-de Querplatten den Beginn und das Ende einer günstigen Querungsstelle.

Verkehrsverhalten

Das Verkehrsverhalten ist überwiegend rücksichtsvoll. Der Fahrzeugverkehr fährt zumeist mit akzeptabler Geschwindigkeit und verzichtet oft auf seinen Vorrang, wenn Fußgänger/innen eine Querungsabsicht deutlich erkennen lassen - zumindest gilt das für Fahrzeuge an der Pulk-spitze oder ohne Pulk. Es kann aber auch passieren, dass Fußgänger/innen länger als an einer üblichen Querungsanlage warten müssen, um die Fahrbahn zu überschreiten. Bei einer stichprobenartigen Verkehrsbeobachtung des Verfassers von 1,5 Stunden Dauer gelang einem ca. 6-jährigen Kind erst nach rund 1 Minute die Querung. Eine vorbeifahrende Radfahrerin kehrte um und vermittelte dem Kind den Einsatz von Blickkontakt und Handzeichen, erst dann stoppten die Autos. Einige Grundschulkinder bedauern den Wegfall der einstigen Ampel, weil sie mit deren Hilfe nicht so lan-ge warten mussten. Auch Personen mittleren Alters müssen erst lernen, in den Vorrang des Fahrverkehrs einzugreifen. So sind auch junge Erwachsene zu beobachten, die auf eine Zeitlücke zum Queren warten, was eine Minute dauern kann. Andere hingegen haben Spaß daran, wachsam drauflos zu gehen und die Fahrzeuge zum Anhalten oder Ausweichen zu zwingen.

Fußgänger/innen, die nur an den Knotenpunkten queren und sich geduldig an die Regeln halten oder mit dem neuen System nicht zurecht kommen, erfahren indessen Nachteile gegenüber dem Vorherzustand. Interessanterweise benutzt der Großteil des Fahrradverkehrs (noch?) nicht die Fahrgassen, sondern die Randbereiche vor den Häusern. Möglicherweise beruht das auf einer Gewohnheit aus der Zeit, als der Gehweg die inoffizielle Alternative zur normalen Fahrbahn war, zumal damals eigentlich eine Radverkehrsanlage notwendig gewesen wäre.

Ausblick und Bewertung

Die Verkehrsbeobachtungen erfolgten einen Monat nach der Inbetriebnahme in der nachmittäglichen Hauptverkehrszeit eines repräsentativen Werktags. Es ist nicht auszuschließen, dass sich das Verhalten des Fahrrad- und Fußverkehrs mittelfristig ändert. Auf Forderung von Landesbehörden wurden die Straßenräume so geplant, dass eine Umstellung auf eine klassische Betriebsweise erfolgen kann, wenn sich der aktuelle Absatz nicht bewähren sollte (Nachrüstung von Schildern). Da das Modell einen hohen Rückhalt bei Bevölkerung und den meisten Behörden hat, rechnet der Bürgermeister nicht mit einem Aufhebung der Regelung. Schließlich war die konventionelle Vorher-Situation nicht unproblematisch (ca. 40 bis 50 Unfälle pro Jahr). Im Frühjahr 2009, wenn sich die Verkehrsströme und das Nutzerverhalten stabilisiert haben, soll eine Verkehrsuntersuchung stattfinden, die u.a. etwaige Veränderungen beim Kfz-Verkehrsvolumen ermittelt. Da der motorisierte Verkehr besser als vorher fließt (Wegfall der Ampel), sind allenfalls beim Schwerverkehr erkennbare Rückgänge zu erwarten.

Auch FUSS e.V. wird das Projekt weiter beob-achten. Obwohl das bauliche Instrumentarium an sich kein Neues ist, stellt „Bohmte“ einen Meilenstein zur städtebaulich integrierten Umgestaltung klassifizierter Ortsdurchfahrten bzw. klassifizierter Hauptverkehrsstraßen dar (Landesstraße!). Dagegen ist zu bezweifeln, dass das Beibehalten des üblichen verkehrsrechtlichen Fahrzeugvorrangs einen mustergültigen Ansatz zur menschengerechten Umgestaltung des Straßenraumes darstellt. Fußverkehrsfreundliche Alternativmodelle wurden in mobilogisch! 2/08 vorgestellt (Verkehrsberuhigter Bereich / Begegnungszone).

Hintergrund I: EU-Projekt Shared Space

Die Einbeziehung des Ortes in das EU-Projekt „Shared Space“ (Beratung und Bezuschussung) und die ungewöhnlich positive Unterstützung durch die Landesbehörden ergaben sich aus glücklichen Zufällen. Der kurze Realisierungszeitraum von vier Jahren war nur möglich, weil fast alle Akteur/innen an einem Strang gezogen haben. Hintergrund war der große (und relativ neue) Leidensdruck bezüglich des Kfz-Verkehrs in der Ortsdurchfahrt. Ganz wesentlich zum Gelingen trug der intensive Beteiligungsprozess bei, Bestandteil der Shared-Space-Philosophie. Begünstigend wirkte sich ferner die besondere Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Land und den Kreisen in Niedersachsen aus.

Hintergrund II: Bohmte – der Ort

Bohmte liegt an der Hauptbahnstrecke Osnabrück – Bremen und wird von der Landesstraße 81 durchquert. Die hohe Kfz-Belastung der Ortsdurchfahrt ist ein relativ neues Phänomen, das sich erst mit dem Ersatz der Bahnübergänge durch Brückenbauwerke ergeben hat. Zuvor hatten häufige und lange Schrankenschließzeiten das Kfz-Aufkommen gedrosselt und regelmäßig unterbrochen. Die Gemeinde bemüht sich, den heimischen Einzelhandel zu fördern, weshalb sie sich bewusst gegen die Verortung von großflächigen Verkaufseinrichtungen am Ortsrand und die Aufwertung des Zentrums entschieden hat. Im Ort wohnen ca. 7.500 Menschen.

In Kürze

Gegenüber anderen Shared Space-Projekten zeichnet sich der im Mai 2008 eröffnete erste deutsche Anwendungsfall in Bohmte durch eine Berücksichtigung der Belange von Blinden und Sehbehinderte aus. Darüber hinaus ist es gelungen, gestalterische Bezüge zwischen öffentlichem Straßenraum und den anliegenden Grundstücken erkennbar zu machen, was durch die ungewöhnlich sparsame Möblierung und den fehlenden Pkw-Parkdruck unterstützt wird. Aus Fußverkehrs-perspektive sind aber alle bisherigen Praxiskompromisse bezüglich Shared Space zu hinterfragen. Denn es gäbe auch gestalterisch identische Betriebsformen, die dem Fußverkehr mehr Rechte und somit mehr Würdigung gäben.

 

Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2008, erschienen. 

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